Dickleibige Kinder und Jugendliche sind als Spielkameraden und Freunde seltener gefragt, werden als faul und weniger intelligent angesehen und erfahren Diskriminierung etwa durch Hänseleien, was zu Kummer und Frust führt. Da dann reichliches Essen als Trost empfunden wird, entsteht ein Teufelskreis, der vor allem sozial schwache Familien betrifft. Sechs Prozent der Kinder in Deutschland zwischen sieben und zehn Jahren und neun Prozent der 14- bis 17-Jährigen sind adipös, d.h., sie leiden unter extremem Übergewicht. Das Institut für Psychologie der Universität Potsdam arbeitet an einem Präventionsprogramm zur kindlicher Adipositas. In einer Befragung der Eltern zu den Übergewichtsrisiken ihrer Kinder zeigte sich dass Eltern den Extrembereich Adipositas zwar gut registrieren, aber die Stufe davor, das Übergewicht, wird nicht als Risiko wahrgenommen. Obwohl Präventionsprogramme hier ansetzen müssten, zeigten sich 85 Prozent der befragten Mütter nicht bereit, in den kommenden sechs Monaten an einem solchen Programm teilzunehmen. Der Einfluss der Mütter zielt in der kindlichen Ernährung vor allem auf ausreichende Nahrungsaufnahme ab, wobei das brave Aufessen und auch andere positive Verhaltensweisen des Kindes nicht selten mit Süßigkeiten und schmackhaften Fast-Food-Mahlzeiten belohnt werden. Kinder von Eltern, die bewusst gesunde Ernährung vorleben, auch eigenverantwortlich eher zu Obst und Gemüse.
Für viele Menschen sind Essen und Emotionen bereits seit Kindertagen eng miteinander verknüpft, denn viele Verhaltensweisen rund um die Ernährung sind so stark verinnerlicht, dass sie durch bloße Eigenmotivation nur schwer zu verändern sind. Daher sollten wirksame Ansätze zur Behandlung etwa bei Über- oder auch Untergewicht genau hier ansetzen, denn emotionales Essen kann schnell zum gesundheitlichen Risiko werden, vor allem dann, wenn Menschen ohnehin zu Übergewicht neigen und sich dieses somit noch weiter verstärkt. Es ist daher wichtig, die Zusammenhänge von Emotionen und Essen besser zu verstehen, vor allem im Zusammenhang mit der Vorbeugung, aber auch bei der Behandlung von Übergewicht. Wenn Menschen lernen, die Signale ihres Körpers besser zu interpretieren, ist es eher möglich, mit anderen Entspannungsmethoden auf Stress zu reagieren, als die Anspannung mit Essen zu kompensieren.
Der Ernährungsbericht Österreich 2017 (nach der Methode der WHO Europa) besagt, dass etwa 30 Prozent der Buben in der dritten Schulstufe übergewichtig oder gar adipös sind, während bei den Mädchen die Rate etwas geringer ist und von 21 Prozent im Westen und Süden Österreichs bis zu 29 Prozent im Osten reicht. Demnach steht Leben in der Stadt, das Fehlen eines Turnsaales sowie kein Gemüseangebot in der Schule in direktem Zusammenhang mit der Entwicklung von Übergewicht. Dicke Kinder haben ein hohes Risiko, übergewichtige Erwachsene zu werden, und dadurch sowohl gesundheitliche Probleme als auch psychische Probleme zu entwickeln, wenn sie etwa wegen ihres Übergewichts verspottet werden. Präventionsmaßnahmen sollten nach Ansicht der Autoren der Studie früh beginnen, wobei sie einen Aktionsplan gegen Adipositas fordern. In Finnland konnte man die Rate an übergewichtigen Kindern von 17 auf zehn Prozent dadurch reduzieren, dass die Schüler in den Schulstunden nicht mehr die meiste Zeit sitzen, sondern viel stehen müssen.
Eine neuere Studie (Urlacher et al., 2019) zeigte überraschenderweise, dass körperlich aktive Kinder genauso viel Energie wie bewegungsarme Kinder verbrauchen, denn für das Übergewicht ist nur das Essverhalten entscheidend. Kinder besitzen offenbar ein gewisses Energiebudget, das sie täglich verbrauchen und das für alle gleich ist, denn essen Kinder mehr als sie verbrauchen können, nehmen sie zu. In der Studie wurden Kinder aus den USA und Großbritannien mit indigenen Kindern aus dem Amazonas verglichen, und obwohl die Kinder aus den Industrieländern mehr sitzen und sich eher in einer sauberen Umgebung befinden, verbrauchen sie am Tag gleich viel Kalorien wie Kinder, die im Regenwald aufwachsen, sich viel bewegen und deren Immunsystem sich ständig gegen Viren und Bakterien verteidigen muss. Der Energieverbrauch war in dieser Untersuchung dabei unabhängig von ihrer Körpermasse. Pro Tag bewegten sich die untersuchten Kinder des Shuar-Stammes sogar um 25 Prozent mehr als die zum Teil leicht übergewichtigen britischen und amerikanischen Kinder, sie verbrauchen dabei aber weniger Energie. Man nimmt daher an, dass Kinder aus den USA und Großbritannien mehr Bewegungsenergie verbrauchen, weil sie mehr Gewicht mit sich herumtragen. Auch könnte es sein, dass sich die Shuar-Kinder effektiver bewegen, denn im Ruhezustand verbrauchten die indigenen Kinder 20 Prozent mehr Energie, was am verstärkten Selbstverteidigungsmodus ihres Immunsystems liegen könnte. Daher widerspricht die Studie gängigen Annahmen, wonach sich der Energieverbrauch am Tag einfach addiert. Untersuchungen an Menschen, die begonnen haben, regelmäßig Sport zu machen belegen auch, dass man am Anfang viel Energie verbraucht, doch mit der Zeit passt sich der Körper an und verbrennt weniger. Daher dürfte es vor allem an der Energiezufuhr liegen, ob ein Kind übergewichtig oder sogar adipös wird, d. h., die Menge an Kalorien, die man zu sich nimmt, scheint den Energiehaushalt viel direkter zu beeinflussen als bisher angenommen. Unabhängig vom positiven Einfluss auf Herz und Lunge wirkt sich Bewegung aber auch indirekt auf das Körpergewicht aus, denn wer sich mehr bewegt, hat weniger Appetit, und je mehr Muskeln jemand besitzt, desto mehr Energie verbraucht er auch im Ruhezustand.
Siehe auch Ernährungsgewohnheiten Jugendlicher,, Wie kann man Adipositas frühzeitig erkennen? und Die Rolle der Erziehung bei Essstörungen.
Um das Körpergewicht von Kindern richtig einzuschätzen, gibt es die Broschüre „Übergewicht bei Kindern: Fragen und Antworten“ der Wiener Gebietskrankenkasse zum Gratis-Download.
Literatur
Stangl, W. (2017). Stichwort: ‚Adipositas‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/24/adipositas/ (2017-11-08)
Urlacher, Samuel S., Snodgrass, J. Josh, Dugas, Lara R., Sugiyama, Lawrence S., Liebert, Melissa A., Joyce, Cara J. & Pontzer, Herman (2019). Constraint and trade-offs regulate energy expenditure during childhood, Science Advances, doi:10.1126/sciadv.aax1065.
Warschburger, P., & Richter, M. (2009). Prävention kindlichen Übergewichts: Elterliche Selbstwirksamkeit und Handlungsergebniserwartungen. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie, 17, 22-29.
https://www.bmgf.gv.at/home/Ernaehrungsbericht2017 (17-11-09)
https://science.orf.at/stories/2996050/ (19-12-19)
Auch in der Schweiz findet sich ein ähnliches Programm:
TAKE – Training von adipösen Kindern und ihren Eltern
Als Zusammenarbeit der Universität Basel und des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Baselland wird in der Region Basel seit zwei Jahren das Training TAKE angeboten: Eltern und Kinder werden dabei in einem verhaltenstherapeutischen Training getrennt in Gruppen behandelt, Ernährungsberatung und Sport ergänzen das Angebot. Im Zusammenhang mit den angestrebten Verhaltensänderungen in den Bereichen Essen, Ernährung und Bewegung werden psychologische Themen wie unrealistische Gewichtsziele, negative Einstellungen zur eigenen Person und zum eigenen Körper sowie Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen zum Thema gemacht. Somit werden bedeutende psychologische, aufrechterhaltende Faktoren wie mangelnde soziale Fertigkeiten, Isolation und negatives Körperbild bei den Kindern und dysfunktionale Erziehungsstrategien bei den Eltern zum Gegenstand der Behandlung. Die Behandlung gliedert sich in eine erste Phase mit 10 wöchentlichen Gruppensitzungen, daran schliessen sich 6 monatliche Gruppensitzungen, dann folgen Auffrischsitzungen über mehrere Jahre.
Ziel des vorliegenden Forschungsprojektes ist es, einerseits ein effektives familienzentriertes Behandlungsprogramm vorzulegen und andererseits die Effektivität der Behandlung von Eltern und Kindern oder von Eltern allein gegeneinander in Bezug auf die langfristige Wirksamkeit zu überprüfen.
Anmeldung und Information: Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Basel (Tonband, Sie werden zurückgerufen oder können Ihre Adresse hinterlassen und wir senden Ihnen Informationsmaterial).
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Jeden Tag werden die Menschen mit Reizen konfrontiert, die mit Lebensmitteln in Verbindung gebracht werden und darauf abzielen, die Aufnahme von Nahrungsenergie zu stimulieren. Das Gehirn spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, da es die kognitive Entscheidungsfindung und das Essverhalten beeinflusst, sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene und insbesondere bei Fettleibigkeit. Experten zufolge ist die Suche nach wirksamen Gegenmaßnahmen gegen die zunehmende Verbreitung von Fettleibigkeit bislang weitgehend erfolglos geblieben, was zum Teil auf falsche Vorstellungen und Annahmen darüber zurückzuführen sein könnte, wer für das Problem verantwortlich ist. Fettleibigkeit wird von der Gesellschaft und bis zu einem gewissen Grad auch von den Betroffenen selbst als das Ergebnis schlechter individueller Entscheidungen angesehen, was bedeutet, dass die Verantwortung für die Vermeidung von Übergewicht oder Fettleibigkeit oder gar deren Heilung allein bei den Einzelnen liegt. Die Gesellschaft fördert jedoch viele Entscheidungen, die der Gesundheit schaden können. Die neurowissenschaftliche Forschung hat insbesondere gezeigt, dass es allgemeine Unterschiede im Verhalten und in den kognitiven Fähigkeiten zwischen Menschen mit und ohne Adipositas gibt. Beispielsweise reagieren Menschen mit Fettleibigkeit anders auf Umweltreize, die mit Essen in Verbindung stehen. Für diese Gruppe ziehen diese Reize eher die Aufmerksamkeit auf sich und lösen ein automatisches Annäherungsverhalten aus. Darüber hinaus werden epigenetische Veränderungen, die durch Ernährung oder Fettleibigkeit verursacht werden, über die Keimbahn an die nächste Generation weitergegeben.
Ganz richtig – Eltern sind in der Verantwortung, Schule und Kindergarten aber auch!
Wenn es in der Mittagsbetreuung nur Currywurst und Pommes gibt, Softdrinks und zum Nachtisch Pudding, muss man sich nicht wundern.
Ich empfehle die Lektüre der folgenden Abschlussarbeit
Adipositas im Kindes- und Jugendalter – Auswirkungen auf den Schulsport, sowie Präventions- und Interventionsmaßnahmen innerhalb und außerhalb der Schule
hier abrufbar
http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/114302.html