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Das flüchtige Fenster der Gegenwart

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    In der physikalischen Welt ist die Gegenwart ein dimensionsloser Punkt, ein mathematischer Nullpunkt zwischen der bereits verstrichenen Vergangenheit und der noch nicht eingetretenen Zukunft. Aus psychologischer Sicht hingegen ist das „Jetzt“ keine bloße Grenze, sondern ein ausgedehntes Zeitintervall, das oft als Präsenzzeit oder Specious Present bezeichnet wird. Der Pionier der Psychologie, William James, prägte diesen Begriff bereits Ende des 19. Jahrhunderts und beschrieb die Gegenwart nicht als messerscharfe Kante, sondern als einen Zeitraum mit einer gewissen Tiefe, in dem wir Ereignisse noch als zusammenhängend und unmittelbar erleben (James, 1890). Die moderne Chronopsychologie und Neurobiologie haben dieses Phänomen präzisiert und kommen zu dem faszinierenden Schluss, dass unser Bewusstsein die Welt in Portionen von etwa zwei bis drei Sekunden verarbeitet.

    Dieses Zeitfenster von rund drei Sekunden fungiert als eine Art temporale Integrationseinheit. Der Hirnforscher Ernst Pöppel konnte nachweisen, dass das Nervensystem Reize, die innerhalb dieses kurzen Fensters liegen, zu einer ganzheitlichen Gestalt zusammenfügt (Pöppel, 1997). Dies erklärt, warum Menschen einen Rhythmus in der Musik als Melodie wahrnehmen und nicht als isolierte Einzeltöne, oder warum man gesprochene Sätze unmittelbar verstehen kann. Würde unser Gehirn jeden Moment sofort in die Vergangenheit „verschieben“, könnte man keinen logischen Zusammenhang zwischen dem Anfang und dem Ende eines Wortes herstellen.

    Diese drei-sekündige Taktung findet sich erstaunlicherweise kulturübergreifend in der Struktur von Gedichtversen, in musikalischen Motiven und sogar in der Dauer eines durchschnittlichen Händedrucks oder einer Umarmung wieder. Es scheint die natürliche Grenze zu sein, an der das Arbeitsgedächtnis die Informationen bündelt, bevor sie entweder im Langzeitgedächtnis gespeichert werden oder im Strom des Vergessens verschwinden. Jenseits dieser drei Sekunden beginnt die bewusste Rekonstruktion, d. h., man muss sich dann aktiv „erinnern“, anstatt das Geschehene noch direkt zu „spüren“ (Wittmann, 2011). Dennoch ist diese Dauer nicht starr, denn unter extremem Stress oder in Zuständen tiefer Meditation kann sich das Zeitempfinden massiv dehnen oder zusammenziehen. Dennoch bleibt das Drei-Sekunden-Fenster der biologische Anker, der es Menschen erlaubt, in einer Welt des ständigen Wandels eine stabile, kohärente Realität zu erleben und uns als handelnde Subjekte in der Zeit wahrzunehmen.

    Literatur

    James, W. (1890). The Principles of Psychology. Henry Holt and Company.
    Pöppel, E. (1997). A hierarchical model of temporal perception. Trends in Cognitive Sciences, 1(2), 56–61.
    Wittmann, M. (2011). Moments in time. Frontiers in Integrative Neuroscience, 5, 66.

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