Während des 20. Jahrhunderts stiegen die IQ-Werte weltweit stetig an – ein Phänomen, das als Flynn-Effekt bekannt ist, doch seit etwa zwei Jahrzehnten dokumentieren jedoch Längsschnittstudien und Metaanalysen in hochindustrialisierten Ländern einen deutlichen Rückgang, der überwiegend auf Umwelt-, Bildungs- und vor allem digitale Einflüsse zurückgeführt wird, nicht auf genetische Ursachen. Besonders in Europa und Nordamerika zeigen sich Verluste in klassischen kognitiven Kernfähigkeiten wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit und abstraktem Denken. Gleichzeitig entstehen neue, digital geprägte Kompetenzen, die jedoch den Rückgang grundlegender Fähigkeiten bislang nicht vollständig ausgleichen. In vielen Ländern des Globalen Südens hält der Flynn-Effekt an, wenngleich sich in urbanisierten Regionen mit hoher Digitalisierungsrate erste Stagnationstendenzen abzeichnen.
Die Ursachen sind vielfältig: Bildungsreformen mit stärkerer Standardisierung und reduzierter kognitiver Tiefe, Belastung durch Neurotoxine (z. B. Blei, Pestizide), Mangel an essenziellen Mikronährstoffen (Eisen, Jod, Zink, Omega-3-Fettsäuren) sowie die fragmentierende Wirkung digitaler Mediennutzung. Studien belegen, dass multitaskingorientierte, oberflächliche Nutzung sozialer Medien und künstlicher Intelligenz die Exekutivfunktionen, die Arbeitsgedächtnisleistung und die Aufmerksamkeitsspanne beeinträchtigen. Gleichzeitig kann eine gezielte, strukturierte Nutzung digitaler Technologien – insbesondere bei älteren Erwachsenen – kognitive Reserven stärken.
Die Debatte um eine „digitale Intelligenz“ bleibt umstritten, da empirische Befunde zeigen, dass neue mediale Kompetenzen bislang nicht die Verluste in fundamentalen Fähigkeiten kompensieren. Fachgremien wie OECD, WHO und der European Brain Council fordern daher eine umfassende Neugestaltung von Testinstrumenten, Bildungsplänen und Gesundheitspolitiken. Dazu zählen kultursensitive Messmethoden, curriculare Schwerpunkte auf kritischem Denken und analoger Problemlösung, begrenzte Bildschirmzeiten, altersgerechte Digitalkompetenzprogramme sowie die Sicherstellung einer neuroprotektiven Ernährung.
Die aktuelle Evidenz verdeutlicht, dass es sich um eine globale kognitive Reorganisation handelt, die nicht linear verläuft und kulturell wie regional unterschiedlich ausfällt. Ob diese Entwicklung zu einer adaptiveren Gesamtintelligenz führt oder zu funktionellen Defiziten in komplexen Gesellschaften, hängt maßgeblich von der Geschwindigkeit und Wirksamkeit interdisziplinärer Gegenmaßnahmen ab.
Literatur
Aranda, C. (2025, 29. Juli). The decline of the intelligence quotient in the digital age: Cognitive reconfiguration and global trends. Montreal, Canada.
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