Die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, trotz ständiger Augenbewegungen eine stabile visuelle Wahrnehmung aufrechtzuerhalten, ist essenziell für Orientierung und kognitive Verarbeitung im Alltag. Dieses Phänomen, das als visuelle Stabilität bezeichnet wird, verhindert, dass wir bei jeder schnellen Blickbewegung Desorientierung oder Schwindel empfinden. Zwei aktuelle Studien liefern neue Erkenntnisse zu den neuronalen Prozessen hinter dieser stabilisierenden Leistung – und zeigen auf, wie diese Mechanismen bei Menschen mit autistischen Merkmalen verändert sein können .
Im Zentrum der Studien steht die Beobachtung, dass das Gehirn sich an die durch eigene Augenbewegungen verursachten Reize gewöhnt und diese zunehmend als irrelevant einstuft. Ähnlich wie das Ticken einer Uhr nach einer gewissen Zeit nicht mehr bewusst wahrgenommen wird, filtert das Gehirn auch visuelle Reize, die durch schnelle Augenbewegungen, sogenannte Sakkaden, entstehen. Dieser Mechanismus erzeugt also eine Form der sensorischen Gewöhnung: Sobald ein Bewegungsmuster vorhersehbar ist, erkennt es das Gehirn als bedeutungslos und blendet es aus.
Wenn Menschen ihren Blick im Spiegel von einem zum anderen Auge bewegen, scheint sich die Pupille nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft zu bewegen. Das liegt daran, dass das Gehirn die Unschärfe, die durch die Bewegung entsteht, unbewusst herausfiltert. Die Probanden der Studie führten Hunderte solcher Augenbewegungen aus, wodurch ihr sensomotorisches System lernte, die Bewegungssignale mit dem entsprechenden motorischen Kommando zu verknüpfen – ein Prozess, der zu einem selektiven Herausfiltern der selbstverursachten Bewegungseindrücke führt.
Doch dieser Mechanismus funktioniert nicht bei allen Menschen gleich gut, denn eine zweite Studie untersuchte 49 Personen mit unterschiedlich ausgeprägten autistischen Merkmalen. Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen mit stärker ausgeprägten autistischen Zügen die visuellen Effekte ihrer eigenen Augenbewegungen weniger gut erkennen und generell eine geringere Sensitivität für Bewegung während dieser Sakkaden aufweisen. Es scheint also dass ihr Gehirn die motorischen Kommandos für Augenbewegungen nicht präzise mit dem übereinstimmt, was tatsächlich visuell wahrgenommen wird. Infolgedessen wird nicht nur die durch Eigenbewegung verursachte Unschärfe ausgeblendet, sondern ein weitaus breiteres Spektrum an Bewegungsreizen unterdrückt.
Diese übermäßige sensorische Filterung könnte erklären, warum viele autistische Menschen unter einer sogenannten sensorischen Überlastung leiden. Indem das Gehirn potenziell relevante visuelle Hinweise nicht verarbeitet, entstehen im Alltag zusätzliche Herausforderungen, die mit erhöhtem Stress und Ermüdung einhergehen können. Wer etwa im Straßenverkehr beim Blick in den Seitenspiegel keine stabile visuelle Vorstellung hat, läuft Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen. Wenn der zugrundeliegende Filterprozess im Gehirn besser verstanden wird, eröffnen sich möglicherweise neue Wege zur Linderung sensorischer Überforderungen bei autistischen Personen.
Die Fähigkeit zur visuellen Stabilität beruht also auf einer präzisen Abstimmung zwischen sensorischen Eindrücken und motorischen Kommandos, denn wird diese Abstimmung gestört hat dies tiefgreifende Auswirkungen auf die visuelle Wahrnehmung und den Umgang mit alltäglichen Reizen.
Übrigens: Das Blickverhalten von Menschen entwickelt sich erst im Laufe der Entwicklung
Eine Studie von Linka et al. (2025) zeigte, dass sich das Blickverhalten von Menschen nicht nur in den ersten Lebensjahren, sondern über fast zwei Jahrzehnte hinweg verändert, denn so richteten jüngere Kinder ihren Blick häufiger auf Hände oder berührte Objekte und weniger auf Textelemente als Erwachsene. Auch unterschied sich die Art der Augenbewegung, d. h., Kinder bewegten ihre Augen seltener horizontal über das Bild als Erwachsene. Überraschend war, dass sich das erwachsene Blickverhalten so langsam entwickelt. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Wahrnehmung und somit das Blickverhalten stark durch Erfahrungen geprägt werden, wobei häufig gesehene Elemente wie Bücher, Bildschirme oder Straßenschilder offenbar die Art formen, wie Menschen ihre Umgebung visuell erkunden. Weiterhin zeigte sich, dass sich die Blickmuster im Laufe der Jugend zunehmend angleichen, denn während elfjährige Kinder Szenen sehr unterschiedlich erkunden, werden die Blickmuster Erwachsener ähnlicher und fokussieren sich auf vergleichbare Elemente. Man vermutet, dass Erwachsene „mentale Landkarten“ für typische Szenen entwickeln, also erfahrungsabhängige Vorstellungen davon entwickeln, welche Bildbestandteile wichtig sind und wo sie zu erwarten sind. Offenbar reifen fundamentale Aspekte des erwachsenen Blickverhaltens bis zu zwei Jahrzehnte lang, wobei diese kontinuierliche Entwicklung zu einem zunehmend kanonischen und weniger individuellen Blickmuster führt, das sich durch Erfahrung und Anpassung an häufig gesehene Reize formt.
Literatur
Linka, M., Karimpur, H. & de Haas, B. (2025). Protracted development of gaze behaviour. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-025-02191-9
Pomè, A., & Zimmermann, E. (2025). Disrupted sensorimotor predictions in high autistic characteristics. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, doi:10.1073/pnas.2501624122
Pomè, A., Schlichting, N., Fritz, C., & Zimmermann, E. (2024). Prediction of sensorimotor contingencies generates saccadic omission. Current Biology, 34, 3215–3225.
Stangl, W. (2025, 7. Mai). Wie erzeugt das Gehirn die Raumstabilität? was stangl bemerkt ….
https:// bemerkt.stangl-taller.at/wie-erzeugt-das-gehirn-die-raumstabilitaet.
Stangl, W. (2025, 6. Juni). Das Blickverhalten von Menschen entwickelt sich im Laufe der Entwicklung. Psychologie-News.
https:// psychologie-news.stangl.eu/5875/das-blickverhalten-von-menschen-entwickelt-sich-im-laufe-der-entwicklung.
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