Die Art und Weise, wie Menschen ihre Umwelt visuell erkunden, ist keineswegs zufällig, denn der Blick bewegt sich mehrmals pro Sekunde und richtet sich gezielt auf für den jeweiligen bedeutsame Elemente, wie Gesichter oder Texte. Lange Zeit nahm man an, dass das typische Blickverhalten bereits im Grundschulalter ausgereift sei, doch neue Erkenntnisse widerlegen diese Annahme und zeigen, dass sich das Blickverhalten bis ins junge Erwachsenenalter kontinuierlich weiterentwickelt. Eine Studie von Linka et al. (2025) untersuchte die Blickbewegungen von über 6.700 Menschen im Alter von fünf bis 72 Jahren, wobei diese große Stichprobe durch eine Kooperation mit einem Mitmach-Museum zu Stande kam, in dem eine eigens entwickelte Eye-Tracking-Station namens „Millionen Augenblicke“ über ein Jahr lang in der Ausstellung installiert war. Besucherinnen und Besucher konnten so ihre Blickbewegungen aufzeichnen lassen und der Forschung zur Verfügung stellen. Insgesamt erfasste das System mehrere Millionen Blickbewegungen beim Betrachten von 40 Alltagsszenen.
Die Ergebnisse zeigten, dass sich das Blickverhalten nicht nur in den ersten Lebensjahren, sondern über fast zwei Jahrzehnte hinweg verändert, denn so richteten jüngere Kinder ihren Blick häufiger auf Hände oder berührte Objekte und weniger auf Textelemente als Erwachsene. Auch unterschied sich die Art der Augenbewegung, d. h., Kinder bewegten ihre Augen seltener horizontal über das Bild als Erwachsene. Überraschend war, dass sich das erwachsene Blickverhalten so langsam entwickelt. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Wahrnehmung und somit das Blickverhalten stark durch Erfahrungen geprägt werden, wobei häufig gesehene Elemente wie Bücher, Bildschirme oder Straßenschilder offenbar die Art formen, wie Menschen ihre Umgebung visuell erkunden. Weiterhin zeigte sich, dass sich die Blickmuster im Laufe der Jugend zunehmend angleichen, denn während elfjährige Kinder Szenen sehr unterschiedlich erkunden, werden die Blickmuster Erwachsener ähnlicher und fokussieren sich auf vergleichbare Elemente. Man vermutet, dass Erwachsene „mentale Landkarten“ für typische Szenen entwickeln, also erfahrungsabhängige Vorstellungen davon entwickeln, welche Bildbestandteile wichtig sind und wo sie zu erwarten sind. Offenbar reifen fundamentale Aspekte des erwachsenen Blickverhaltens bis zu zwei Jahrzehnte lang, wobei diese kontinuierliche Entwicklung zu einem zunehmend kanonischen und weniger individuellen Blickmuster führt, das sich durch Erfahrung und Anpassung an häufig gesehene Reize formt.
Literatur
Linka, M., Karimpur, H. & de Haas, B. (2025). Protracted development of gaze behaviour. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-025-02191-9
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