Warum greifen Menschen morgens automatisch zur Kaffeetasse, ohne über jeden einzelnen Handgriff nachzudenken? Diese Beobachtung führt zu einer grundlegenden Frage der Neurowissenschaften: Wie steuert das Gehirn das menschliche Verhalten durch bewusste Entscheidungen oder durch eingeübte Routinen? Traditionell wird angenommen, dass zwei voneinander getrennte Systeme diese Prozesse lenken: ein schnelles, intuitives System für automatische Handlungen und ein langsames, reflektiertes System für bewusstes Handeln. Dieses Modell, das unter anderem durch Daniel Kahnemans Konzept des „schnellen“ und „langsamen“ Denkens bekannt wurde, dominiert seit Jahrzehnten die Forschung. Hamker et al. (2025) stellen diese Zweiteilung nun grundlegend in Frage und argumentieren, dass menschliches Verhalten nicht durch zwei strikt getrennte Systeme bestimmt wird, sondern durch ein dynamisches Zusammenspiel komplexer neuronaler Netzwerke. Im Zentrum stehen dabei miteinander verschaltete Strukturen aus Cortex, Basalganglien und Thalamus, die Handlungen planen, ausführen und automatisieren. Menschliches Verhalten sollte man daher nicht in die Kategorien „zielgerichtet“ oder „gewohnheitsmäßig“ trennen, sondern als Kontinuum verstehen, denn automatisierte Handlungen entstehen vorwiegend durch trainierte Abkürzungen innerhalb dieser neuronalen Schleifen, während zielgerichtetes Verhalten erhalten bleibt, wenn alle Schaltkreise vollständig aktiviert werden. Gewohnheiten sind somit nicht das Ergebnis eines separaten Systems, sondern Ausdruck effizienter Kommunikation zwischen denselben neuronalen Netzwerken, die auch bewusste Handlungen steuern.
Diese Sichtweise hat nicht nur Bedeutung für das Verständnis menschlicher Kognition, sondern auch für die Entwicklung künstlicher Intelligenz, denn es gibt Parallelen zwischen der Arbeitsweise des Gehirns und modernen KI-Systeme, insbesondere bei Transformer-Netzwerken, die auf Selbstaufmerksamkeit (self-attention) basieren. Wie die Basalganglien-Schaltkreise können auch solche Modelle durch „Abkürzungen“ innerhalb ihrer Netzarchitektur effizienter werden, ohne dabei ihre Fähigkeit zu kontextabhängigem Lernen zu verlieren. Darin liegt eine Brücke zwischen neurobiologischen und maschinellen Lernprozessen – ein Schritt hin zu neuroinspirierten KI-Systemen, die nicht nur schneller, sondern auch energiesparender und adaptiver sind.
Man sollte daher in zukünftigen Forschungen das Konzept der kognitiven Karten des Hippocampus – also mentaler Repräsentationen von Raum und Erfahrung – in dieses integrative Modell einbeziehen. Hippocampale Prozesse wie das „Replay“, bei dem neuronale Aktivitätsmuster wiederholt werden, könnten demnach wesentlich zur Zielauswahl und zum Lernen beitragen, indem sie Informationen an das Striatum und den medialen präfrontalen Cortex weitergeben. Dieses Zusammenspiel von Gedächtnis, Motivation und Handlung verdeutlicht, dass die Steuerung menschlichen Verhaltens ein emergentes Produkt zahlreicher vernetzter Systeme ist und nicht nur das Ergebnis zweier konkurrierender Instanzen.
Durch diese neue Sichtweise werden klassische neuropsychologische Modelle überwunden und eine integrierte Perspektive auf die Funktionsweise des Gehirns eröffnet. Menschliches Verhalten beruht demnach auf flexiblen neuronalen Netzwerken, die zugleich Stabilität (durch Gewohnheit) und Anpassungsfähigkeit (durch Zielorientierung) ermöglichen. Dadurch ergeben sich auch Impulse für die Weiterentwicklung von KI-Systemen, die von diesen Prinzipien lernen könnten, um ebenso anpassungsfähig, ressourcenschonend und kontextsensitiv zu agieren wie das menschliche Gehirn.
Literatur
Hamker, F. H., Baladron, J., & Janssen, L. K. (2025). Interacting corticobasal ganglia-thalamocortical loops shape behavioral control through cognitive maps and shortcuts. Trends in Neurosciences, doi:10.1016/j.tins.2025.09.006.
Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Psychologen :::