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Das verteilte Gehirn: Wie Entscheidungen parallel entstehen

    Entscheidungen erscheinen uns als spontane, einheitliche Gedankenakte. Doch aktuelle neurowissenschaftliche Befunde zeichnen ein deutlich komplexeres Bild: Die Prozesse, die zu einer Entscheidung führen, verlaufen nicht in klar abgegrenzten hierarchischen Bahnen, sondern in einem vielschichtigen Zusammenspiel zahlreicher Hirnareale. Zwei im Fachjournal Nature veröffentlichte Studien des International Brain Laboratory (IBL) zeigen, dass Entscheidungsfindung ein global vernetztes und hochgradig paralleles Phänomen ist, das nahezu das gesamte Gehirn erfasst (Findling et al., 2025; Meshulam et al., 2025).

    Das IBL, ein Zusammenschluss von über einem Dutzend Forschungseinrichtungen weltweit – darunter die Princeton University und das University College London – führte eines der bislang umfassendsten neurowissenschaftlichen Experimente durch. 139 Mäuse wurden darauf trainiert, auf visuelle Reize mit einer bestimmten Bewegung eines kleinen Rades zu reagieren, um eine Belohnung zu erhalten. Währenddessen zeichneten die Forschenden die Aktivität von mehr als 600.000 Neuronen aus 279 Hirnregionen mithilfe von Neuropixels-Elektroden und Kalziumbildgebung auf – ein bisher unerreichter Detailgrad.

    Die Ergebnisse widersprechen der lange vertretenen Vorstellung, dass Entscheidungen als sequenzielle Signalkaskaden von sensorischen über kognitive bis hin zu motorischen Arealen verlaufen. Stattdessen ergab sich ein Bild gleichzeitiger Aktivierung über weite Teile des Gehirns hinweg: Signale, die mit Wahrnehmung, Erwartung, Handlung und Belohnung zusammenhängen, traten nicht nur in spezialisierten Regionen auf, sondern waren in nahezu allen Ebenen des neuronalen Netzwerks messbar. Visuelle Informationen erschienen zunächst in klassischen sensorischen Zentren, breiteten sich dann jedoch in Form von sogenannten „ramp-like“-Aktivitäten bis in motorische und midbrain-Strukturen aus, wo sie mit der Entscheidung selbst korrelierten (Meshulam et al., 2025).

    Besonders bemerkenswert ist die Beobachtung, dass auch Vorerfahrungen und Wahrscheinlichkeitsannahmen („Priors“) nicht lokal, sondern über 20 bis 30 Prozent aller Hirnregionen hinweg repräsentiert werden. Diese Befunde sprechen für ein Modell der Entscheidungsfindung, das auf rekursiven Rückkopplungsschleifen zwischen zahlreichen Arealen beruht – ähnlich den Prinzipien der Bayes’schen Inferenz (Findling et al., 2025). Das Gehirn agiert demnach nicht als zentral gesteuerte Maschine, sondern als verteiltes System, in dem sensorische, motorische und kognitive Prozesse untrennbar ineinandergreifen.

    Diese Erkenntnisse haben nicht nur theoretische Bedeutung für das Verständnis biologischer Kognition, sondern liefern auch potenzielle Impulse für die Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz. Während heutige neuronale Netze meist hierarchisch organisiert sind, könnte das Wissen um die verteilte und parallele Organisation biologischer Netzwerke zu flexibleren, adaptiveren KI-Architekturen führen.

    Darüber hinaus setzt das Projekt neue Maßstäbe in Sachen Open Science: Sämtliche erhobenen Datensätze wurden frei zugänglich gemacht, sodass Forschende weltweit auf die Ergebnisse zugreifen und eigene Analysen durchführen können. Diese Transparenz und Kooperation könnten die Neurowissenschaft entscheidend beschleunigen – und langfristig dazu beitragen, die Grundlagen menschlicher Entscheidungsfindung besser zu verstehen. Auch wenn das Mausgehirn mit seiner vergleichsweise geringen neuronalen Komplexität nur bedingt mit dem menschlichen Gehirn vergleichbar ist, liefern diese Arbeiten ein eindrucksvolles Modell, wie kognitive Prozesse aus der Dynamik des gesamten neuronalen Systems entstehen.

    Literatur

    Findling, C., Hubert, F., Acerbi, L., Benson, B., Birman, D., Bonacchi, N., … Pouget, A., & International Brain Laboratory. (2025). Brain-wide representations of prior information in mouse decision-making. Nature, 645(8079), 192–200.
    Meshulam, L., Angelaki, D., Benson, J., McRoberts, I., Noel, J.-P., Bonacchi, N., … International Brain Laboratory. (2025). A brain-wide map of neural activity during complex behaviour. Nature, 645(8079), 177–191.

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