Alison Gopnik hat das wissenschaftliche Verständnis kindlicher Kognition grundlegend transformiert, indem sie nachwies, dass schon sehr junge Kinder über ausgeprägte Fähigkeiten zum logischen Denken, zur Kausalitätsanalyse und zur Perspektivenübernahme verfügen. Traditionell galten Kinder in der Psychologie lange Zeit als defizitäre Denker, deren kognitive Fähigkeiten sich erst im Laufe der Entwicklung allmählich dem Niveau Erwachsener annähern. Gopnik stellte diese Annahme radikal infrage. In zahlreichen empirischen Studien belegte sie, dass Kinder in vielen Bereichen sogar flexibler und offener denken als Erwachsene. Besonders prägend war ihre These, dass Kinder wie kleine Wissenschaftler agieren: Sie beobachten ihre Umwelt, stellen Hypothesen auf, führen „Experimente“ durch und ziehen daraus Schlüsse – ein Prozess, der in ihrer Theorie des „child as scientist“ zentral ist. In ihrem Buch The Scientist in the Crib (Gopnik, Meltzoff & Kuhl, 1999) erläutert sie gemeinsam mit ihren Co-Autoren, wie Kinder durch Neugier und intrinsische Motivation getrieben Lernprozesse steuern, die strukturell jenen der wissenschaftlichen Forschung ähneln.
Gopnik zeigte etwa, dass Kinder in der Lage sind, aus statistischen Mustern Kausalbeziehungen zu erschließen. In Experimenten konnten bereits Vierjährige erkennen, welche von mehreren Ursachen wahrscheinlich für einen Effekt verantwortlich ist – basierend auf beobachteten Wahrscheinlichkeiten. Dies deutet auf eine Form von „Bayesianischem Denken“ hin, also auf eine Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten in Hypothesentests zu integrieren (Gopnik et al., 2004). Diese Erkenntnis widersprach früheren Theorien, etwa jenen von Jean Piaget, der annahm, dass solche Denkformen erst viel später im Kindesalter entstehen. Auch im Bereich der Theory of Mind – also der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gedanken oder Absichten zu modellieren – belegte Gopniks Forschung, dass schon Vorschulkinder überraschend präzise mentale Modelle anderer Personen entwickeln können (Gopnik & Wellman, 1992). Dabei wird deutlich, dass Kinder über ein implizites Verständnis psychologischer Prozesse verfügen, das sie beim sozialen Lernen aktiv einsetzen.
Gopnik verbindet dabei experimentelle Psychologie mit Philosophie des Geistes, Entwicklungsbiologie und künstlicher Intelligenz, um ein umfassendes Bild kindlicher Intelligenz zu zeichnen. In späteren Arbeiten argumentierte sie, dass die „Unreife“ des kindlichen Gehirns kein Mangel, sondern eine evolutionäre Ressource ist: Kinder seien besonders gut darin, neue Muster zu entdecken, weil sie nicht durch festgefahrene Denkroutinen eingeschränkt sind wie Erwachsene. Diese Idee der kognitiven Plastizität wurde auch durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse gestützt und führte zu einem Umdenken in der pädagogischen Praxis sowie in der Grundlagenforschung. Insgesamt hat Gopnik mit ihrer Forschung einen Paradigmenwechsel eingeleitet – weg vom Bild des defizitären Kindes hin zu einem Verständnis von Kindern als kreativen, aktiven und hochdifferenzierten Denkern, deren kognitive Leistungen oft unterschätzt werden.
Literatur
Gopnik, A., Meltzoff, A. N., & Kuhl, P. K. (1999). The scientist in the crib: Minds, brains, and how children learn. New York: William Morrow.
Gopnik, A., Sobel, D. M., Schulz, L. E., & Glymour, C. (2004). Causal learning mechanisms in very young children: Two-, three-, and four-year-olds infer causal relations from patterns of variation and covariation. Developmental Psychology, 40(2), 162–181.
Gopnik, A., & Wellman, H. M. (1992). Why the child’s theory of mind really is a theory. Mind & Language, 7(1–2), 145–171.
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