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Wie das Gehirn aus Schattierungen die dreidimensionale Welt formt

    Die menschliche Fähigkeit, dreidimensionale Strukturen aus zweidimensionalen Abbildungen zu erschließen, ist eine der bemerkenswertesten Leistungen des visuellen Systems, wobei Schattierungen eine zentrale Rolle spielen, die dabei helfen, Tiefe, Form und Volumen zu erkennen. Bisherige Theorien gingen davon aus, dass das Gehirn ähnlich wie ein Computer die Lichtquellen und Objektgeometrie rückwärts berechnet, um aus Schattierungen auf Formen zu schließen. Diese Annahme erweist sich jedoch als problematisch, nicht nur, weil selbst moderne Rechner mit dieser Aufgabe Schwierigkeiten haben, sondern auch, weil das visuelle System des Menschen gar nicht auf solche physikalisch-mathematischen Berechnungen ausgelegt ist. Eine Studie vpn Aubuchon et al. (2025) zeigte nun, dass das Gehirn stattdessen auf eine Art visuelle Abkürzung setzt, indem es Schattierungen als unscharfe Linien interpretiert, die den dreidimensionalen Kurven eines Objekts folgen. Durch das Erfassen dieser Linienmuster kann die visuelle Verarbeitung frühzeitig und effizient eine Vorstellung von der räumlichen Struktur eines Objekts entwickeln.

    Dabei scheint es irrelevant zu sein, ob die Schattierung realistisch ist, denn in Experimenten mit künstlerischen Darstellungen, bei denen die Lichtführung physikalisch nicht korrekt war, aber ähnliche Linienmuster aufwiesen wie echte Objekte, konnten Probandinnen und Probanden dennoch zuverlässig die 3D-Formen erkennen. Dies spricht dafür, dass das Gehirn auf generelle Orientierungsmuster reagiert und nicht auf absolute Helligkeitswerte. Der Schlüsselfaktor ist demnach die geometrische Anordnung von Kanten und Kurven im Bild, die das Gehirn zu einem kohärenten räumlichen Eindruck zusammensetzt.

    Neurowissenschaftlich lässt sich diese Fähigkeit auf orientationsselektive Zellen im primären visuellen Cortex zurückführen. Ursprünglich wurden diese Nervenzellen mit der Detektion einfacher 2D-Merkmale wie Kanten oder Ecken in Verbindung gebracht. Die aktuelle Studie erweitert dieses Verständnis entscheidend, denn die Aktivität dieser Zellen sagt nicht nur die Erkennung einfacher Formen, sondern auch komplexer 3D-Strukturen aus Schattierungen vorher. Selbst in Fällen, in denen es zu visuellen Illusionen kommt, etwa durch ungewöhnliche Lichtverhältnisse, lässt sich die menschliche Wahrnehmung durch die Aktivitätsmuster dieser Zellen erklären. Das spricht dafür, dass das Gehirn Schattierungen nicht primär als Helligkeitsgradienten, sondern als orientierte Texturmuster verarbeitet, die Rückschlüsse auf die Oberflächenkrümmung zulassen. Offenbar scheint es eine kombinatorische Auswertung von Mustern und deren Orientierung zu sein, die es dem Gehirn erlaubt, aus flächigen Bildern eine dreidimensionale Welt zu erschaffen.

    Diese Erkenntnisse haben weitreichende Implikationen, und zwar nicht nur für das Verständnis biologischer Wahrnehmung, sondern auch für künstliche Intelligenz, bildgebende Verfahren und die künstlerische Darstellung von Raum, denn so könnten etwa Computer-Vision-Systeme von einer Orientierung-basierten Analyse profitieren, wie sie das menschliche Gehirn nutzt. Auch die intuitive Wirksamkeit künstlerischer Techniken wie Schraffur oder Schattierung erklärt sich vor diesem Hintergrund, denn sie sprechen genau jene Mechanismen an, die in der menschlichen Wahrnehmung seit jeher zur Erfassung räumlicher Tiefe dienen.



    Literatur

    Aubuchon, C., Vergne, R., Cholewiak, S. A., Kunsberg, B., Holtmann-Rice, D., Zucker, S. W. & Fleming, R. W. (2025). Orientation fields predict human perception of 3D shape from shading. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, doi:10.1073/pnas.2503088122


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