Lange galt das Kleinhirn vornehmlich als Steuerzentrale für menschliche Bewegungen, also zuständig für Gleichgewicht, Koordination und feinmotorische Abläufe. Doch Manoli et al. (2025) zeigten in einer Untersuchung, dass das Kleinhirn nicht nur als Mitspieler, sondern als aktiver Treiber in der Herausbildung der Theory of Mind fungiert, also jener Fähigkeit, die es Menschen erlaubt, sich in andere hineinzuversetzen, ihre Absichten zu verstehen und emotionale Reaktionen nachzuvollziehen.
Diese Theory of Mind entsteht im Alter von etwa drei bis fünf Jahren und gilt als Schlüsselkompetenz für soziales Handeln und Mitgefühl. Typischerweise wird sie mithilfe von Tests überprüft, bei denen Kinder erkennen müssen, dass andere Personen falsche Überzeugungen haben können. Wer erfolgreich solche Tests besteht, demonstriert damit ein entwickeltes Verständnis für die mentalen Zustände anderer. In der aktuellen Untersuchung analysierte man funktionelle MRT-Daten von 41 Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren, die während der Bildgebung den Pixar-Kurzfilm „Teilweise wolkig“ sahen – eine kindgerechte, aber emotional anspruchsvolle Sequenz, die soziales Verständnis herausfordert.
Die Ergebnisse zeigten, dass Kinder, die im ToM-Test erfolgreich abschnitten, während der relevanten Filmszenen eine deutlich erhöhte Aktivität in bestimmten Bereichen des Kleinhirns aufwiesen, insbesondere im Crus I und II. Diese Aktivierungsmuster ähnelten dabei denen von Erwachsenen. Besonders spannend war die Analyse der funktionellen Konnektivität: Während bei Erwachsenen die Großhirnrinde tendenziell die Kontrolle über soziale Prozesse übernimmt, gaben bei Kindern mit bereits entwickelter Theory of Mind verstärkt Areale des Kleinhirns Impulse an das Großhirn weiter. Dies deutet darauf hin, dass das Kleinhirn in frühen Lebensphasen eine steuernde Rolle bei der Etablierung sozial-kognitiver Netzwerke spielt. Erst im Laufe der Entwicklung verlagert sich offenbar die Kontrolle zunehmend hin zum Cortex.
Dieser Bottom-up-Informationsfluss aus dem Kleinhirn könnte erklären, warum frühkindliche Kleinhirnschädigungen etwa infolge neurologischer Erkrankungen oder Unfällen nicht nur motorische, sondern auch soziale Entwicklungsstörungen nach sich ziehen können. Die Ergebnisse liefern damit einen möglichen Erklärungsansatz für die enge Verbindung zwischen cerebellären Anomalien und Autismus-Spektrum-Störungen, bei denen Defizite in Empathie und sozialer Interaktion zentral sind. Man schließt daraus, dass eine frühzeitige Förderung von Theory-of-Mind-Fähigkeiten durch gezielte Aktivierung cerebellärer Netzwerke unterstützt werden könnte.
Literatur
Manoli, A., Van Overwalle, F., Grosse Wiesmann, C. & Valk, S. L. (2025). Functional recruitment and connectivity of the cerebellum is associated with the emergence of Theory of Mind in early childhood. Nature Communications, 16(1), 5273.
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