Lange galt in der Neurowissenschaft die Überzeugung, dass die Neubildung von Nervenzellen – die Neurogenese – mit dem Erwachsenenalter endet. Die Konsequenzen dieses Dogmas waren weitreichend: Wenn das Gehirn keine neuen Neuronen mehr bildet, so die Annahme, bleiben degenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder psychiatrische Leiden wie Depressionen schwer behandelbar. Doch eine Studie von Dumitru et al. (2025) stellt diese Grundannahme in Frage und liefert Belege dafür, dass selbst im reifen menschlichen Gehirn neue Nervenzellen entstehen – mit potenziell weitreichenden therapeutischen Perspektiven. Zentraler Fokus der Untersuchung war der Hippocampus, eine Hirnregion, die maßgeblich an Gedächtnisbildung, kognitiver Flexibilität und emotionaler Regulation beteiligt ist. Insbesondere der sogenannte Gyrus dentatus, eine Zone innerhalb des Hippocampus, erwies sich als Ort aktiver Zellneubildung. Mit modernsten molekularbiologischen Verfahren – darunter Single-Nucleus-RNA-Sequenzierung und Durchflusszytometrie – untersuchte man postmortales Gewebe von Menschen im Alter zwischen 0 und 78 Jahren. Dabei gelang es ihnen erstmals, alle Stadien neuronaler Vorläuferzellen zu identifizieren – von Stammzellen bis hin zu proliferierenden, also sich aktiv teilenden, unreifen Nervenzellen. Entscheidend war dabei der Nachweis des Zellteilungsmarkers Ki67, ergänzt durch maschinelles Lernen, das half, die feinen Unterschiede im Zellprofil zu identifizieren.
Besonders aufschlussreich ist der klare Nachweis sogenannter neuronaler Progenitorzellen – jene Ursprungszellen, aus denen sich später voll funktionsfähige Neuronen entwickeln. Ihr Vorhandensein im erwachsenen Gehirn galt lange als ungeklärt und wurde oft angezweifelt. Die Studie widerlegt diese Skepsis mit methodischer Präzision und liefert so nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Grundlagenforschung, sondern auch zur klinischen Hoffnung: Wenn das Gehirn in der Lage ist, neue Nervenzellen zu bilden, könnten regenerative Therapieformen denkbar werden, die gezielt diese Fähigkeit aktivieren – etwa bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, bei Depressionen oder anderen Störungen, die mit neuronalen Funktionsverlusten einhergehen.
Bemerkenswert ist auch die individuelle Varianz, die die Forschenden beobachten konnten, denn während einige Erwachsene eine hohe Anzahl aktiver Vorläuferzellen aufwiesen, zeigten andere nur sehr geringe Mengen. Die Ursachen für diese Unterschiede sind bisher unklar, könnten jedoch sowohl genetischen Ursprungs als auch durch Umweltfaktoren wie Bewegung, Stress oder Ernährung beeinflusst sein. Dies eröffnet neue Forschungsfelder, die der Frage nachgehen, wie die neuronale Plastizität im Alter gezielt gefördert werden kann.
Literatur
Dumitru, I., Paterlini, M., Zamboni, M., Ziegenhain, C., Giatrellis, S., Saghaleyni, R., Björklund, Å., Alkass, K., Tata, M., Druid, H., Sandberg, R., & Frisén, J. (2025). Identification of proliferating neural progenitors in the adult human hippocampus. Science, 389, 58–63.
Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Psychologen :::