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Die evolutionären Wurzeln der Sprache

    Lange Zeit galt die Fähigkeit zur Sprache als ein exklusiv menschliches Merkmal, das sich evolutionär nur beim Homo sapiens entwickelt habe, da bestimmte neuronale Verbindungen, insbesondere das Fasciculus arcuatus, ausschließlich im menschlichen Gehirn vorkommen. Dieses Nervenfaserbündel verbindet wichtige Sprachzentren im Frontal- und Temporallappen und wird als grundlegende Infrastruktur für die Verarbeitung und Produktion komplexer Sprache betrachtet. Neuere Forschungsergebnisse widerlegen jedoch diese Annahme und deuten auf eine viel tiefere evolutionäre Verwurzelung der sprachrelevanten Hirnarchitektur hin.

    In einer Studie von Becker et al. (2025) wurde mittels hochauflösender Magnetresonanztomografie das Gehirn von 20 verstorbenen Schimpansen untersucht, die aus freier Wildbahn, Auffangstationen und Zoos stammten, wobei sich zeigte, dass das Fasciculus arcuatus, das bislang als menschenspezifisch galt, auch bei Schimpansen mit dem mittleren Schläfenlappen verbunden ist, und zwar in allen untersuchten Fällen. Die direkte Verbindung des Fasciculus arcuatus zum mittleren Schläfenlappen, die beim Menschen als zentral für syntaktische und semantische Prozesse gilt, scheint also bereits im letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen vorhanden gewesen zu sein, also vor rund sieben Millionen Jahren. Damit rückt die Entstehung der sprachrelevanten Hirnstruktur in eine tiefere evolutionäre Vergangenheit, als bislang angenommen wurde. Der entscheidende Unterschied liegt dabei nicht in der bloßen Existenz dieser Verbindung, sondern in deren Ausprägung, denn beim Menschen ist diese Verbindung deutlich stärker und differenzierter, was möglicherweise die Grundlage für die Entstehung der komplexen Sprachfähigkeit bildet.

    Während beim Menschen diese Verbindung besonders intensiv ausgebildet ist, zeigen Schimpansen eine stärkere Verbindung des Fasciculus arcuatus zum oberen Temporallappen. Dieses umgekehrte Verhältnis könnte erklären, warum Schimpansen trotz ähnlicher neuronaler Infrastruktur keine Sprache im menschlichen Sinne entwickeln können. Die schwächere Ausprägung der Verbindung lässt vermuten, dass sie zwar prinzipiell vorhanden ist, aber funktional nicht die gleiche Tragweite entfalten kann wie beim Menschen. Interessanterweise ist bekannt, dass auch beim Menschenkind diese neuronale Verbindung erst im Laufe der frühen Entwicklung vollständig ausreift, was die Parallele zur evolutionären Entwicklung zusätzlich stützt.

    Diese Studie unterstreicht, dass die für Sprache erforderlichen Strukturen keine menschliche Neuschöpfung sind, sondern das Ergebnis einer langen evolutionären Optimierung. d. h., die Sprachfähigkeit des Menschen ist vor diesem Hintergrund weniger ein evolutionärer Quantensprung, sondern vielmehr als eine qualitative Verstärkung bereits angelegter Strukturen im Gehirn der nächsten Verwandten.



    Literatur

    Becker, Y., Eichner, C., Paquette, M., Bock, C., Girard-Buttoz, C., Jäger, C., Gräßle, T., Deschner, T., Amarasekaran, B., Asiimwe, C., Aschoff, D., Bleyer, M., Chantrey, J., Fedurek, P., Flores, K., Gone Bi, Z. B., Jaffe, J. E., Hambrech, S., Hanus, D., Haun, D., Kirilina, E., Kopp, K., Leendertz, F. H., Liptovszky, M., Makouloutou-Nzassi, P., Mätz-Rensing, K., McElreath, R., McLennan, M., Mezö, Z., Moittié, S., Møller, T., Morawski, M., Olofsson-Sannö, K., Pika, S., Pizarro, A., Pléh, K., Rendel, J., Romero Forero, A., Steiner, J., Stidworthy, M. F., Southern, L., Szentiks, C. A., Tanga, T., Ulrich, R., Unwin, S., Walker, S., Weiskopf, N., Wibbelt, G., Wood, K., Zuberbühler, K., Gunz, P., Wittig, R. M., Crockford, C., Friederici, A. D., Anwander, A. & EBC Consortium. (2025). Long arcuate fascicle in wild and captive chimpanzees as a potential structural precursor of the language network. Nature Communications, 16, doi:10.1038/s41467-025-59254-8


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