Die kognitive Fähigkeit, sich in großen Umgebungen zu orientieren, basiert auf einer „mentalen Karte“, einem internen Abbild der Umwelt, in dem markante Orientierungspunkte gespeichert sind. In dieser Karte spielen verschiedene Hirnregionen eine entscheidende Rolle: Die Rasterzellen bilden ein neuronales Koordinatensystem, die Ortszellen im Hippocampus kodieren bestimmte Orte, und der RSC speichert Informationen zu Landmarken wie Bergen, Kirchen oder Seen. Diese kartographische Kodierung erlaubt es Menschen, Distanzen zu überblicken und zielführende Routen zu planen.
Lange galt die Annahme, dass die Fähigkeit zur kartenbasierten Navigation erst im späteren Kindes- oder Jugendalter voll ausgebildet ist. Doch neue Forschungsergebnisse zeichnen ein anderes Bild: Bereits fünfjährige Kinder verfügen über grundlegende neuronale Strukturen, die ihnen helfen, sich anhand markanter Wegpunkte zu orientieren. Eine Studie von Jung & Dilks (2025) hat mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) aufgezeigt, dass der retrospleniale Komplex (RSC) – ein für räumliche Orientierung bedeutsames Areal im Gehirn – bereits in diesem jungen Alter aktiv ist und räumliche Informationen zu Landmarken repräsentiert.
In einem Experiment mit fünfjährigen Kindern nutzte man eine virtuelle Stadt mit charakteristischen Ecken – etwa einem Berg, einem See oder einem Wald – um die mentale Repräsentation von Orten zu untersuchen. Die Kinder betrachteten eine Karte der Stadt, prägten sich die Lage der Gebäude ein und sollten anschließend auf Grundlage einzelner Bilder angeben, wo sich diese Gebäude befinden. Dabei zeigte sich, dass der RSC besonders aktiv war, wenn Kinder erfolgreich den Standort eines Gebäudes bestimmten. Je stärker die neuronale Aktivität im RSC, desto präziser war die räumliche Einordnung, beispielsweise ob sich eine Eisdiele am Berg oder am See befindet. Diese Resultate deuten darauf hin, dass der RSC bereits bei jungen Kindern ähnlich funktioniert wie bei Erwachsenen und somit früher als angenommen eine zentrale Rolle bei der Navigation übernimmt.
Zusätzlich identifizierte man den Parahippocampalen Platzbereich (PPA) als weiteren wichtigen Akteur in diesem neuronalen Netzwerk, der im Gegensatz zum RSC, der ortsbezogene Informationen verarbeitet, der auf die Art des Objekts reagiert – etwa ob es sich um eine Eisdiele oder ein Feuerwehrhaus handelt – und zwar unabhängig von dessen Lage. Diese funktionale Trennung, bekannt als doppelte Dissoziation, wurde bei den fünfjährigen Probanden klar nachgewiesen. Der Hippocampus hingegen zeigte sich verantwortlich für die Integration beider Informationsarten: sowohl der Orts- als auch der Kategoriedaten. Obwohl diese neuronalen Areale schon im frühen Kindesalter aktiv sind, benötigen Kinder dennoch Jahre, um diese vollständig für eigenständige Navigation zu nutzen. Die Fähigkeit, Orientierungspunkte effizient zu kodieren und auf Karten zu übertragen, verbessert sich schrittweise zwischen dem sechsten und zehnten Lebensjahr. Erst im Jugendalter erreichen Kinder ein erwachsenenähnliches Niveau in der Wegfindung. Dies deutet darauf hin, dass die strukturelle Reifung der beteiligten Hirnareale sowie das Zusammenspiel mit Gedächtnisfunktionen über längere Zeiträume hinweg trainiert und verfeinert werden müssen.
Literatur
Jung, Y. & Dilks, D. D. (2025). Early development of navigationally relevant location information in the retrosplenial complex. Proceedings of the National Academy of Sciences, 12219, doi:10.1073/pnas.2503569122
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