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Neue Einblicke in die Architektur des Lernens

    Lernen ist ein hochkomplexer Prozess, der weit über das einfache Einprägen von Informationen hinausgeht, denn er basiert auf der Fähigkeit des Gehirns, bestehende Verbindungen zwischen Nervenzellen, also die Synapsen, zu verändern, zu verstärken oder gänzlich neu zu bilden. Dieser Vorgang, als synaptische Plastizität bezeichnet, ist die Grundlage jeder Form von Erfahrungslernen, doch die konkrete Art und Weise, wie das Gehirn entscheidet, welche dieser Verbindungen angepasst werden, war bislang jedoch nur unzureichend verstanden. Traditionell geht man davon aus, dass Neuronen beim Umbau ihrer synaptischen Verbindungen festen, allgemeinen Prinzipien folgen.

    Wright, Hedrick & Komiyama (2025) untersuchten jüngst die Aktivität von Nervenzellen im motorischen Cortex von Mäusen während eines gezielten Lernprozesses, und zwar dem Erlernen einer neuen Bewegungsabfolge, über einen Zeitraum von zwei Wochen. Mithilfe hochauflösender in-vivo-Bildgebung mit Einzel-Synapsen-Auflösung beobachteten sie, wie sich die Verbindungen innerhalb einzelner Neuronen differenziert veränderten. Im Fokus standen dabei zwei Typen von Dendriten, die basalen Dendriten, die direkt vom Zellkörper ausgehen, und die apikalen Dendriten, die weiter entfernt in höher gelegenen Schichten der Zellstruktur verzweigt sind. Die Ergebnisse zeigten, dass in diesen unterschiedlichen Dendritenabschnitten auch unterschiedliche Regeln der synaptischen Veränderung gelten, denn während die Stärkung von Synapsen in den apikalen Dendriten durch die gleichzeitige Aktivität benachbarter Synapsen ausgelöst wurde – ein Phänomen, das auf lokale funktionelle Cluster hindeutet –, erfolgte die synaptische Potenzierung in den basalen Dendriten in Übereinstimmung mit der klassischen Hebb’schen Lernregel, die besagt, dass Synapsen gestärkt werden, wenn präsynaptische und postsynaptische Zellen gleichzeitig aktiv sind („What fires together, wires together“). Diese Differenzierung innerhalb einer einzigen Zelle legt nahe, dass das Gehirn auf verschiedenen Ebenen der neuronalen Struktur spezialisierte Lernstrategien einsetzt. Während apikale Dendriten offenbar für die Bildung aufgabenbezogener funktioneller Gruppen verantwortlich sind, die flexibel auf neue Anforderungen reagieren, tragen die basalen Dendriten eher zur Stabilisierung und Verstärkung bereits bestehender neuronaler Ensembles bei. Das Zusammenspiel dieser beiden Mechanismen erlaubt es dem Gehirn, sowohl neue Informationen effizient zu integrieren als auch bestehendes Wissen zu festigen und bei Bedarf abzurufen.

    Diese Erkenntnisse stellen die bisherige Vorstellung eines einheitlichen neuronalen Lernmechanismus infrage und lassen Lernen vielmehr als das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener, spezialisierter Prozesse erscheinen. Lernprozesse gleichen demnach nicht dem Bau einer einzelnen neuen Verbindung zwischen zwei Punkten, sondern eher einem groß angelegten Infrastrukturprojekt: In unterschiedlichen Teilbereichen eines Neurons arbeiten „verschiedene Bautrupps“ nach individuellen Plänen daran, neue Verbindungen zu knüpfen oder bestehende zu verstärken, immer mit dem Ziel, Informationen schnell, effizient und dauerhaft zu verankern. Die Fähigkeit des Gehirns, dabei kontextsensitiv und dynamisch zu agieren, könnte vielleicht auch erklären, warum Menschen so unterschiedlich und individuell lernen.



    Literatur

    Wright, W. J., Hedrick, N. G. & Komiyama, T. (2025). Distinct synaptic plasticity rules operate across dendritic compartments in vivo during learning. Science, 388, 322–328.


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