Im Jahr 1775 wurde der erste von insgesamt vier Bänden der Reihe „Physiognomische Fragmente“ des Schweizer Pfarrers und Hobbynaturforschers Johann Caspar Lavater veröffentlicht. Der Text war mit einer Vielzahl von vergleichenden Zeichnungen von Profilen, Augenpaaren, Lippen- und Stirnpartien, Nasen, Ohren oder Händen versehen, die mit Anmerkungen versehen waren, in denen die Korrespondenz zwischen physischen und psychischen Merkmalen erörtert wurde. Denn gemäß der Überzeugung Lavaters manifestiert sich die Seele des Menschen in der Beschaffenheit des Körpers, insbesondere des Gesichts. Der Pastor, der sich der wissenschaftlichen Forschung verschrieben hatte, bemühte sich, seine These mit den Methoden der Wissenschaft zu belegen. Zu diesem Zweck vermaß er die Proportionen, Abstände und Winkel. Die Annahme, dass Charaktereigenschaften aus dem Gesicht abgelesen werden können, hat sich jedoch als Irrtum erwiesen.
In ihrer Studie (Hu et al., 2018) analysierten die Forschenden, inwiefern Menschen Persönlichkeitsmerkmale anhand von Körperformen beurteilen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten 3D-Bodyscans von 2.506 Personen und ließen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Persönlichkeit dieser Körper anhand von Bildern einschätzen. Im Anschluss wurden die prognostizierten Persönlichkeitsprofile mit den tatsächlichen Persönlichkeitsmerkmalen der gescannten Personen verglichen.
Die Resultate demonstrieren, dass Menschen dazu tendieren, bestimmte Körperformen mit spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen zu assoziieren, wobei diese Zuordnungen häufig bemerkenswert präzise waren, insbesondere im Hinblick auf die Extraversion. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass körperliche Merkmale wie Haltung und Gewicht einen starken Einfluss auf die Einschätzungen haben. Die Studie betont die anhaltende Relevanz der „Physiognomie“ in der modernen Gesellschaft und zeigt, wie tief verwurzelt die Tendenz ist, vom Körper auf die Persönlichkeit zu schließen. Zudem bietet sie wichtige Einblicke in die menschliche Wahrnehmung und Beurteilung anderer Personen basierend auf körperlichen Merkmalen. Dies wirft Fragen zur Objektivität bei der Beurteilung anderer Menschen auf.
Die allgemeine Frage, ob man von der äußeren Erscheinung eines Menschen auf seine Persönlichkeit schließen kann, ist allerdings komplex und umstritten. Allerdings ist es wichtig, dabei mehrere Punkte zu beachten:
- Vorurteile und Stereotypen: Viele dieser Zuordnungen basieren auf gesellschaftlichen Vorurteilen und Stereotypen, die nicht unbedingt der Realität entsprechen.
- Individuelle Unterschiede: Jeder Mensch ist einzigartig, und Persönlichkeit wird von vielen Faktoren beeinflusst, nicht nur vom Aussehen.
- Kulturelle Unterschiede: Was in einer Kultur als Indikator für bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gilt, kann in einer anderen völlig anders interpretiert werden.
- Veränderlichkeit: Sowohl Aussehen als auch Persönlichkeit können sich im Laufe der Zeit verändern.
- Komplexität der Persönlichkeit: Persönlichkeit ist vielschichtig und lässt sich nicht einfach an oberflächlichen Merkmalen festmachen.
Obwohl es also gewisse Zusammenhänge zwischen Erscheinung und Persönlichkeit geben kann, sollte man sehr vorsichtig damit sein, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Eine ganzheitliche Beurteilung eines Menschen erfordert mehr als nur den ersten visuellen Eindruck. Es ist wichtig, Menschen offen und unvoreingenommen zu begegnen und sie durch Interaktion und Kommunikation kennenzulernen, anstatt sich auf oberflächliche Merkmale zu verlassen.
Literatur
Hu, Y., Parde, C. J., Hill, M. Q., Mahmood, N. & O’Toole, A. J. (2018). First impressions of personality traits from body shapes. Psychological Science, 29, 1969-1983.
Stangl, W. (2008, 11. Jul). Physiognomik. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https:// lexikon.stangl.eu/31456/physiognomik
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