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Neuer Erklärungsansatz für Tinnitus

    Schilling et al. (2023) untersuchten verschiedene Erklärungsmodelle für Tinnitus mit Hilfe einer Kombination aus künstlicher Intelligenz, Kognitionsforschung und experimentellen Neurowissenschaften. Dabei identifizierten sie zwei zentrale Prozesse, deren fehlerhaftes Zusammenspiel wahrscheinlich Tinnitus auslöst. Der erste Prozess, die prädiktive Enkodierung, ermöglicht es dem Gehirn, eingehende Reize aufgrund früherer Erfahrungen vorherzusagen und zu interpretieren. So kann es zum Beispiel undeutliche Seheindrücke oder nur halb gehörte Sprachfetzen ergänzen und damit die Wahrnehmung verbessern. Bei einem Tinnitus jedoch greift dieser vorausschauende Optimierungsprozess des Gehirns zu kurz: Nach gängigen Modellen interpretiert es dann ein Rauschen oder Pfeifen in unseren Höreindruck hinein, das gar nicht vorhanden ist. Hinzu kommt ein zweiter Prozess, der nicht vom verarbeitenden, oberen Ende des neuronalen Hörprozesses ausgeht, sondern vielmehr von dessen Anfang: Die adaptive stochastische Resonanz sorgt dafür, dass wir schwache Signale besser wahrnehmen, indem sie ein zusätzliches Rauschen hinzufügt, um das Signal zu verstärken und so über die Wahrnehmungsschwelle zu heben. Dieses Verstärkungsrauschen tritt besonders dann auf, wenn die Hörsinneszellen im Innenohr geschädigt sind und man deshalb in bestimmten Frequenzbereichen nicht mehr gut hört, so dass die adaptive stochastische Resonanz zum Ausgleich dieser Hörschwäche vermehrt eigene Geräusche erzeugt. Nach diesem neuen, kombinierten Modell entsteht Tinnitus also durch die Kombination beider Prozesse: Die adaptive stochastische Resonanz erzeugt ein Verstärkungsrauschen, das dann von der prädiktiven Codierung fälschlicherweise als realer Hörreiz interpretiert wird. Durch diese Kombination von Top-Down und Bottom-Up Prozessen in der Hörbahn entsteht das Phantomgeräusch des Tinnitus. Dies könnte auch erklären, warum Tinnitus häufig mit einer Überempfindlichkeit gegenüber leisen Tönen einhergeht, da das Gehirn auch diese leisen realen Signale besonders stark verstärkt.



    Literatur

    Schilling, Achim, Sedley, William, Gerum, Richard, Metzner, Claus, Tziridis, Konstantin, Maier, Andreas, Schulze, Holger, Zeng, Fan-Gang, Friston, Karl J. & Krauss, Patrick (2023). Predictive coding and stochastic resonance as fundamental principles of auditory phantom perception. Brain, doi: 10.1093/brain/awad255.
    https://www.scinexx.de/?p=277329 (23-11-06)


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