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Die Illusion vom Verfall der Sitten

Dass die Menschen immer schlechtere Umgangsformen aufweisen, ist eine verbreitete Klage – die schon immer und überall geäußert wurde, wobei vor allem anekdotische Berichte darauf hindeuten, dass die Mehrzahl der Menschen glaubt, dass die Moral immer mehr abnimmt. Die Wahrnehmung des moralischen Niedergangs wird dabei von Menschen verschiedener politischer Ideologien, Rassen, Geschlechter, Altersgruppen und Bildungsniveaus geteilt.

In einer Reihe von Studien, bei denen sowohl Archiv- als auch Originaldaten verwenden wurden, konnten Mastroianni & Gilbert (2023) zeigen, dass die Menschen in mindestens sechzig Ländern der Welt glauben, dass die Moral abnimmt, wobei sie dies seit mindestens siebzig Jahren vermuten, und diesen Rückgang sowohl auf die abnehmende Moral des Einzelnen im Alter als auch auf die abnehmende Moral der nachfolgenden Generationen zurückführen. Man analysierte dabei Umfragen, in denen Menschen gebeten wurden, über den aktuellen Stand ihrer eigenen Moral und den ihrer Zeitgenossen zu berichten, wobei Umfragen verwendet wurden, die mindestens zweimal mit einem Mindestabstand von zehn Jahren durchgeführt worden waren, damit die Antworten im Zeitverlauf verglichen werden konnten. Dazu gehörten Fragen wie etwa „Wie würden Sie den allgemeinen Zustand der moralischen Werte in diesem Land heute bewerten?

Wenn die Moral im Laufe der Zeit tatsächlich gesunken wäre, könnte man erwarten, dass die Teilnehmer ihre Altersgenossen negativer beurteilen als diejenigen, die die gleiche Umfrage früher durchgeführt hatten. Die Daten zeigten jedoch, dass sich die Einschätzung der Moral ihrer Altersgenossen im Laufe der Zeit nicht verändert hat, was wohl bedeutet, dass die Wahrnehmung des moralischen Verfalls falsch ist bzw. dass es zumindest sehr schwierig ist, Beweise für diesen moralischen Verfall zu finden. Kurz: die Wahrnehmung des moralischen Niedergangs eine ist Illusion. Es handelt sich dabei wohl um einen Mechanismus, der auf zwei bekannten psychologischen Phänomenen beruht (verzerrte Informationsaufnahme und verzerrte Informationserinnerung), die eine solche Illusion des moralischen Verfalls hervorrufen kann.

Insgesamt zeigten die Studien also, dass die Wahrnehmung des moralischen Verfalls zwar weit verbreitet, sehr dauerhaft, aber unbegründet und wohl leicht zu erzeugen ist, wobei dieser Irrtum auch Auswirkungen auf die Forschung über die Fehlallokation knapper Ressourcen, die unzureichende Nutzung sozialer Unterstützung und den sozialen Einfluss hat.



Literatur

Mastroianni, A. M. & Gilbert, D. T. (2023). The illusion of moral decline. Nature, 618, 441-442.
Stangl, W. (2015, 14. April). Pädagogik Erziehungswissenschaft – Die Wissenschaft. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/WISSENSCHAFTPAEDAGOGIK/


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Ein Gedanke zu „Die Illusion vom Verfall der Sitten“

  1. Jakob van Hoddis (1911)

    Weltende

    Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
    In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
    Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
    Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

    Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
    An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
    Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
    Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

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