Seit mehr als einem Jahrhundert ging man davon aus, dass die Muster der Gehirnaktivität, die die Erfahrungen, Hoffnungen und Träume bestimmen, dadurch bestimmt werden, wie verschiedene Gehirnregionen über ein komplexes Netz von Billionen von Zellverbindungen miteinander kommunizieren. Nun hat eine Studie von Pang et al. (2023) mehr als 10 000 verschiedene Karten der menschlichen Hirnaktivität untersucht und festgestellt, dass die Gesamtform des Gehirns eines Menschen einen weitaus größeren Einfluss darauf hat, wie diese denken, fühlen und sich verhalten, als seine komplexe neuronale Vernetzung. Man hat in der Studie Ansätze aus der Physik, den Neurowissenschaften und der Psychologie herangezogen, um das jahrhundertealte Paradigma, das die Bedeutung komplexer Vernetzungen im Gehirn hervorhebt, zu widerlegen und stattdessen eine bisher nicht gewürdigte Beziehung zwischen Gehirnform und -aktivität aufzuzeigen. Diese Ergebnisse sind von großer Bedeutung, da sie die Art und Weise, wie das Gehirn funktioniert, sich entwickelt und altert, erheblich vereinfachen und Möglichkeiten eröffnet, die Auswirkungen von Krankheiten wie Demenz und Schlaganfall zu verstehen, indem man Modelle der Gehirnform betrachtet, die viel einfacher zu handhaben sind als Modelle der gesamten Verbindungen des Gehirns.
Bisher hatte man geglaubt, dass bestimmte Gedanken oder Empfindungen Aktivitäten in bestimmten Teilen des Gehirns auslösen, aber diese Studie zeigt nun, dass strukturierte Aktivitätsmuster über fast das gesamte Gehirn angeregt werden, so wie ein musikalischer Ton durch Schwingungen entsteht, die entlang der gesamten Länge einer Geigensaite auftreten und nicht nur in einem isolierten Segment. Man untersuchte dabei mit Hilfe der Magnetresonanztomographie die Eigenmodi, d. h. die natürlichen Schwingungs- oder Erregungsmuster eines Systems, bei denen verschiedene Teile des Systems alle mit der gleichen Frequenz angeregt werden. Eigenmodi werden normalerweise zur Untersuchung physikalischer Systeme in Bereichen wie Physik und Ingenieurwesen verwendet und wurden erst kürzlich für die Untersuchung des Gehirns angepasst. So wie die Resonanzfrequenzen einer Geigensaite durch ihre Länge, Dichte und Spannung bestimmt werden, werden die Eigenmoden des Gehirns durch seine strukturellen – physikalischen, geometrischen und anatomischen – Eigenschaften bestimmt.
Man verglich auch, wie gut Eigenmodi, die aus Modellen der Gehirnform gewonnen wurden, im Vergleich zu Eigenmodi, die aus Modellen der Gehirnkonnektivität gewonnen wurden, unterschiedliche Aktivitätsmuster erklären könnten, und fand heraus, dass die Eigenformen, die durch die Geometrie des Gehirns – seine Konturen und Krümmungen – definiert sind, die stärkste anatomische Einschränkung für die Gehirnfunktion darstellen, ähnlich wie die Form einer Trommel die Töne beeinflusst, die sie erzeugen kann. Mit Hilfe mathematischer Modelle hat man dann die theoretischen Vorhersagen bestätigt, dass die enge Verbindung zwischen Geometrie und Funktion durch wellenförmige Aktivität angetrieben wird, die sich im gesamten Gehirn ausbreitet, so wie die Form eines Teiches die Wellen beeinflusst, die von einem fallenden Kieselstein gebildet werden. Diese Ergebnisse eröffnen die Möglichkeit, die Funktion des Gehirns direkt aus seiner Form vorherzusagen, und eröffnen neue Wege, um zu erforschen, wie das Gehirn zu individuellen Unterschieden im Verhalten und im Risiko für psychiatrische und neurologische Erkrankungen beiträgt“.
Man fand auch heraus, dass in über zehntausend Magnetresonanztomographie-Aktivitätskarten, die bei der Ausführung verschiedener von Neurowissenschaftlern entwickelter Aufgaben zur Untersuchung des menschlichen Gehirns erstellt wurden, die Aktivität von Eigenmoden mit räumlichen Mustern dominiert wurde, die sehr lange Wellenlängen aufweisen und sich über Distanzen von mehr als 40 mm erstrecken. Das steht im Gegensatz zu den herkömmlichen Annahmen, wonach die Aktivität während verschiedener Aufgaben oft in fokalen, isolierten Bereichen mit erhöhter Aktivität auftritt, und zeigt, dass die traditionellen Ansätze zur Kartierung des Gehirns möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs zeigen, wenn es darum geht, zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert.
Literatur
Pang, James C., Aquino, Kevin M., Oldehinkel, Marianne, Robinson, Peter A., Fulcher, Ben D., Breakspear, Michael & Fornito, Alex (2023). Geometric constraints on human brain function. Nature, doi:10.1038/s41586-023-06098-1.
Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Psychologen :::