Das Muster der strukturellen Hirnanomalien bei Anorexia nervosa ist noch immer nicht gut verstanden. Mehrere Studien berichten über erhebliche Defizite des Volumens der grauen Substanz und der kortikalen Dicke bei akut untergewichtigen Patienten, während andere Studien keine Unterschiede oder sogar eine Zunahme bei Patienten im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen feststellen. Eine kürzliche Gewichtszunahme vor der Untersuchung könnte einen Teil dieser Heterogenität erklären. Um das Ausmaß, die Größenordnung und die Abhängigkeiten der Veränderungen der grauen Substanz bei Anorexia nervosa zu klären, haben Walton et al. (2022) eine prospektive, koordinierte Meta-Analyse von multizentrischen Neuroimaging-Daten durchgeführt. In der Studie wurden fast zweitausend bereits vorhandene Gehirnscans von Menschen mit Magersucht, von Menschen in Behandlung und von gesunden Kontrollpersonen (Menschen, die weder an Magersucht leiden noch in Behandlung sind) zusammengefasst. Die Studie ergab, dass bei Menschen, die sich von der Magersucht erholt hatten, die Beeinträchtigungen der Gehirnstruktur weniger schwerwiegend waren, was darauf hindeutet, dass das Gehirn bei angemessener frühzeitiger Behandlung und Unterstützung in der Lage sein könnte, sich selbst zu reparieren. Sie zeigte aber, dass Menschen mit Anorexie beträchtliche Verringerungen in drei wichtigen Bereichen des Gehirns aufweisen: kortikale Dicke, subkortikales Volumen und kortikale Oberfläche. Eine Verringerung der Hirngröße ist von großer Bedeutung, da man davon ausgeht, dass sie den Verlust von Hirnzellen oder der Verbindungen zwischen ihnen impliziert. Diese Ergebnisse gehören zu den bisher eindeutigsten, die einen Zusammenhang zwischen strukturellen Veränderungen im Gehirn und Essstörungen aufzeigen, wobei die Effektgrößen in ihrer Studie für Magersucht tatsächlich die größten aller bisher untersuchten psychiatrischen Störungen sind. Das bedeutet, dass Menschen mit Anorexie zwei- bis viermal so große Verkleinerungen der Gehirngröße und -form aufwiesen wie Menschen mit Erkrankungen wie Depression, ADHS oder Zwangsstörungen. Die bei Anorexie beobachteten Veränderungen der Gehirngröße könnten auf einen niedrigeren Body-Mass-Index (BMI) zurückzuführen sein.
Allerdings hat man auch festgestellt, dass die starken Verkleinerungen der Gehirnstruktur, die man bei Patienten beobachtet hatte, bei Patienten, die sich bereits auf dem Weg der Besserung befinden, weniger auffällig waren. Das ist ein gutes Zeichen, denn es deutet darauf hin, dass diese Veränderungen möglicherweise nicht dauerhaft sind, d. h., mit der richtigen Behandlung könnte sich das Gehirn wieder erholen.
Daher ist eine frühzeitige Behandlung wichtig, um Menschen mit Magersucht zu helfen, langfristige strukturelle Gehirnveränderungen zu vermeiden. Die derzeitige Behandlung umfasst in der Regel Formen der kognitiven Verhaltenstherapie und vor allem eine Gewichtszunahme. Viele Menschen mit Magersucht werden erfolgreich behandelt, und diese Ergebnisse zeigen die positiven Auswirkungen einer solchen Behandlung auf die Gehirnstruktur.
Literatur
Walton, Esther et al. (2022). Brain Structure in Acutely Underweight and Partially Weight-Restored Individuals with Anorexia Nervosa – A Coordinated Analysis by the ENIGMA Eating Disorders Working Group. Biological Psychiatry, doi:10.1016/j.biopsych.2022.04.022.
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