Die Covid-19-Pandemie und die damit verbundenen Abriegelungen lösten weltweit Veränderungen in den täglichen Routinen der menschlichen Erfahrung aus. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Covid-Pandemie vor allem die Zeitwahrnehmung vieler Menschen auf den Kopf gestellt hat. Im Frühjahr 2020, als man sich im ersten Lockdown befand und die meisten Menschen ihren Alltag plötzlich völlig neu organisieren mussten, hat einfach jeder gemerkt, dass irgendwas komisch und anders mit der Zeit ist. Es damals vielen Menschen schwergefallen, ohne die üblichen Routinen den Verlauf der Zeit wie gewohnt zu verfolgen, etwa zu bestimmen, welchen Wochentag sie gerade erlebten oder wie viele Tage schon seit Beginn des Lockdowns vergangen waren. Die Zeit verstrich für viele quälend langsam, für andere rasten die Tage ungewohnt schnell, doch fast niemand empfand den Verlauf der Zeit als ganz normal. Studien berichteten von einer ungewöhnlichen Dehnung der Zeit und von einer Störung subjektive Zeitwahrnehmung. In welche Richtung diese Störung ging, war dabei jedoch uneindeutig, denn diejenigen, die während der Lockdowns unter sozialer Isolation, Langeweile, negativen Emotionen und Stress litten, empfanden die Zeit als verlangsamt, während sich für diejenigen, die sich mit der neuen Situation gut zurechtfanden, die Zeit hingegen beschleunigte. In vielen Studien zeigte sich auch, dass je unglücklicher oder je depressiver man sich fühlte, desto langsamer verging die Zeit.
Die Blursday-Datenbank enthält Messwerte zum subjektiven Zeitempfinden und zu verwandten Prozessen von mehr als 2800 Teilnehmern aus neun Ländern, die während der Covid-19-Pandemie mit Fragebögen und Verhaltensaufgaben getestet wurden. Die leicht zu verarbeitende Datenbank und alle Datenerfassungsinstrumente sind für Forscher, die an der Untersuchung der Auswirkungen sozialer Isolation auf zeitliche Informationsverarbeitung, Zeitperspektive, Entscheidungsfindung, Schlaf, Metakognition, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit interessiert sind, vollständig zugänglich. Blursday enthält auch wichtige quantitative Statistiken wie Schlafmuster, Persönlichkeitsmerkmale, psychologisches Wohlbefinden und Lockdown-Indizes.
Die Daten des Blursday-Projektes sind bislang erst vorläufig ausgewertet, doch ist bereits jetzt erkennbar: Je isolierter sich Menschen fühlten, desto langsamer verging für sie die Zeit. Die Strenge des Lockdowns und der Grad der Einschränkung von Mobilität waren dabei besonders ausschlaggebend. Wesentlich war auch die Dauer der Ereignisdichte, wobei vor allem negative Affekte die Zeitwahrnehmung stark beeinflussen, denn eine unangenehme Gesprächssituation kann sich manchmal endlos ziehen, während glückliche Momente dagegen oft viel zu schnell verfliegen. Während der Pandemie scheint dieser Effekt bei vielen Menschen einen anderen dominiert zu haben: dass nämlich die Dauer vergangener Zeiträume anhand der Dichte erinnerter Ereignisse abgeschätzt wird, d. h., ereignisreiche Phasen erscheinen im Rückblick länger als von Routinetätigkeiten geprägte Zeiten. In der ereignisarmen Lockdown-Zeit hätte das also, anders als beobachtet, zu einer Verkürzung der wahrgenommenen Zeit führen können. Wenn man dagegen einschätzt, wie schnell die Zeit im aktuellen Moment vergeht, spielt noch ein anderer Faktor eine Rolle: welche Aufmerksamkeit man dem Verlauf der Zeit schenkt, denn wer die Minuten zählt, verlangsamt die Zeit.
Nach Ansicht des Psychologen Marc Wittman hängt die Zeitwahrnehmung eng mit der Selbstwahrnehmung zusammen. Dabei beruft er sich auf ein klassisches Modell, das als „Zeitgeber-Akkumulator-Modell“ bezeichnet wird, nach welchem ein hypothetischer Zeitgeber Impulse freigibt, die von einem Zähler gesammelt werden. Je mehr Pulse, desto länger erscheint der Zeitraum. Bei physiologischer Erregung wie Angst oder Stress erhöht sich die Pulsrate, die Zeit erscheint gedehnt. Solche Pulse werden aber nur gesammelt, wenn der Zeit Aufmerksamkeit zuteil wird, doch wenn man die Zeit dagegen vergisst, verfliegt sie. Man geht davon aus, dass hier Körpersignale wie Herzrate oder Atmung und die darauf bezogenen neuronalen Verarbeitungsprozesse eine zentrale Rolle spielen. Der insulare und der zinguläre Cortex scheinen dabei daran beteiligt zu sein, was auch erklären könnte, warum eine Reihe psychischer Erkrankungen mit einer veränderten Zeitwahrnehmung verbunden sind. Depressive Menschen berichten etwa oft von unangenehm langsam vergehender Zeit, d. h., entsprechende Leiden gehen meist mit Störungen der emotionalen Selbstregulationsfähigkeit und veränderter Körperwahrnehmung einher. Körper, Gefühl und Zeit bedingen sich gegenseitig, was aber auch Möglichkeiten eröffnet, die Zeit selbst aktiv zu beeinflussen und dies therapeutisch einzusetzen. So kann hier Meditation zu messbaren Erfolgen führen, denn Achtsamkeit verlangsamt nachweislich den Zeitverlauf. Wer andererseits in der Meditation den Fokus auf den eigenen Körper verliert, beschleunigt die Zeit. Im Kontext der Pandemie wurde die Verlangsamung der subjektiven Zeit meist als etwas Negatives wahrgenommen, doch aus existenzieller Sicht sollte man die Zeit auch hie und da einmal anhalten wollen.
Literatur
Anderl, S. (2022). Psychologie der Zeit : Warum uns der Lockdown so lang vorkam. Frankfurter Allgemeine vom 8. Juni.
https://www.researchgate.net/publication/356705980_The_Blursday_Database_Individuals
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