Zum Inhalt springen

Warum das menschliche Gehirn geschrumpft sein könnte

    Die Größe des menschlichen Gehirns hat sich in den sechs Millionen Jahren seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Homo und Schimpanse fast vervierfacht, aber es wird angenommen, dass das menschliche Gehirn seit dem Ende der letzten Eiszeit an Volumen verloren hat. Der Zeitpunkt und der Grund für diese Abnahme sind rätselhaft. Hier verwenden DeSilva et al. (2021) die Analyse von Veränderungspunkten, um den Zeitpunkt der Veränderungen in der Gehirnentwicklung abzuschätzen. Sie stellen fest, dass die Hominidengehirne vor 2,1 und 1,5 Millionen Jahren positive Veränderungen erfuhren, die mit der frühen Evolution des Homo und den technologischen Innovationen, die in den archäologischen Aufzeichnungen zu finden sind, zusammenfallen. Sie stellen aber auch fest, dass die Verkleinerung des menschlichen Gehirns erst in den letzten 3000 Jahren stattgefunden hat. Diese Datierung stützt nicht die Hypothese, dass die Verkleinerung des Gehirns ein Nebenprodukt der Verkleinerung des Körpers, ein Ergebnis der Umstellung auf eine landwirtschaftliche Ernährung oder eine Folge der Selbst-Domestizierung ist. Vielmehr wird durch diese Ergebnisse die Hypothese gestützt, dass die jüngste Abnahme der Gehirngröße stattdessen aus der Externalisierung von Wissen und den Vorteilen der Entscheidungsfindung auf Gruppenebene resultieren könnte, was zum Teil auf das Aufkommen sozialer Systeme der verteilten Kognition und der Speicherung und Weitergabe von Informationen zurückzuführen ist. Der Mensch lebt in sozialen Gruppen, in denen mehrere Gehirne zur Entstehung kollektiver Intelligenz beitragen. Die Auswirkungen von Gruppengröße, sozialer Organisation, kollektiver Intelligenz und anderen potenziellen Selektionskräften auf die Evolution des Gehirns lassen sich am Beispiel der Ameisen erforschen. Die bemerkenswerte ökologische Vielfalt der Ameisen und ihr Artenreichtum umfassen Formen, die mit Aspekten der menschlichen Sozialität übereinstimmen, darunter große Gruppengrößen, agrarische Lebensweisen, Arbeitsteilung und kollektive Kognition. Ameisen bieten ein breites Spektrum an sozialen Systemen, um Hypothesen über die Vergrößerung oder Verkleinerung des Gehirns zu entwickeln und zu testen und helfen bei der Interpretation der beim Menschen festgestellten Muster der Gehirnentwicklung. Obwohl Menschen und Ameisen sehr unterschiedliche Wege in der sozialen und kognitiven Evolution darstellen, können die Erkenntnisse, die Ameisen bieten, umfassend über die selektiven Kräfte informieren, die die Gehirngröße beeinflussen. Bei Staaten-bildenden Ameisen mit Hierarchien und starker Arbeitsteilung musste also nicht mehr jedes Individuum alles können und sich an alles erinnern, sondern es entstand eine Art kollektive Intelligenz, wobei ein kleineres Hirn auch von Vorteil ist, weil es weniger Energie braucht.

    Stibel (2023) hat in diesem Zusammenhang jüngst den Klimawandel als Umweltfaktor untersucht, indem er mehrere paläoklimatische Aufzeichnungen nutzte, in denen Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Niederschlag mit Veränderungen der Gehirngröße von Homo-Exemplaren in den letzten fünfzigtausend Jahren verglichen werden. Es zeigte sich, dass in den regionalen und globalen Paläoklimaaufzeichnungen die Gehirngröße bei Homo in Zeiten der Klimaerwärmung im Durchschnitt deutlich geringer war als in kühleren Perioden. Geologische Epochen wiesen ähnliche Muster auf, wobei die Wärmeperioden des Holozäns signifikant kleinere Gehirne aufwiesen als diejenigen, die während der Eiszeiten am Ende des Spätpleistozäns lebten. Die Überprüfung der raum-zeitlichen Muster ergab, dass die Anpassungsreaktion vor etwa fünfzehntausend Jahren begonnen hat und möglicherweise bis in die Neuzeit andauert. In geringerem Maße waren auch die Luftfeuchtigkeit und die Niederschlagsmenge für die Gehirngröße ausschlaggebend, wobei trockene Perioden mit einer größeren Gehirngröße bei Homo zusammenhängen dürften. Die Ergebnisse deuten also darauf hin, dass die Größe des menschlichen Gehirns eine adaptive Reaktion auf einen Klimawandel ist, die durch eine natürliche Selektion als Reaktion auf Umweltstress hervorgerufen wird.



    Literatur

    DeSilva, Jeremy M., Traniello, James F. A., Claxton, Alexander G. & Fannin, Luke D. (2021). When and Why Did Human Brains Decrease in Size? A New Change-Point Analysis and Insights From Brain Evolution in Ants. Frontiers in Ecology and Evolution, 9, doi:10.3389/fevo.2021.742639.
    Stibel, Jeff Morgan (2023). Climate Change Influences Brain Size in Humans. Brain Behavior and Evolution, 98, 93-106.
    Stangl, W. (2023, 5. Juli). Körpergröße, Gehirngröße und Klimawandel. arbeitsblätter news.
    https:// arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/koerpergroesse-gehirngroesse-und-klimawandel/


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Psychologen :::