Bisher gab es kein objektives Maß für Tinnitus, das klinisch verwendet werden kann, d. h., die klinische Beurteilung der Erkrankung stützte sich weitgehend auf subjektives Feedback von Einzelpersonen, das nicht aber immer zuverlässig ist. Shoushtarian et al. (2020) untersuchten die Sensitivität der funktionellen Nah-Infrarot-Spektroskopie zur Unterscheidung von Menschen mit und ohne Tinnitus und nutzten dabei zur Identifizierung fNIRS-Merkmale, die mit der subjektiven Bewertung des Tinnitus-Schweregrads assoziiert sind. Die funktionelle Nah-Infrarot-Spektroskopie misst ähnlich wie das fMRT Veränderungen im Sauerstoffgehalts des Bluts im Gehirn, doch hat das fNIRS eine bessere zeitliche Auflösung und erzeugt keinen Scannerlärm, ist portabel, kostengünstig und daher auch für den Routineeinsatz geeignet. Sie zeichneten fNIRS-Signale im Ruhezustand und als Reaktion auf auditive oder visuelle Stimuli von 25 Probanden mit chronischem Tinnitus und 21 Kontrollpersonen auf, die auf Alter und Hörverlust vergleichbar waren. Der Tinnitus-Schweregrad wurde mit Hilfe des Tinnitus Handicap Inventory bewertet und die subjektiven Bewertungen von Tinnitus-Lautheit und Belästigung auf einer visuellen Analogskala gemessen. Die Spektroskopie zeigte in mehreren Bereichen des Gehirns signifikante Aktivitätsunterschiede zwischen den Tinnitus-Patienten und der Kontrollgruppe, wobei es diese Unterschiede erlaubten, die Schwere des Tinnitus abzuschätzen, d. h., je lauter die Probanden und Probandinnen in vorherigen Befragungen ihr Ohrgeräusch eingestuft hatten, desto ausgeprägter waren auch ihre neurologischen Abweichungen von der Kontrollgruppe. Bei den von Tinnitus Betroffenen war die Verbindung zwischen Arealen des Schläfenlappens und dem Stirnhirn verstärkt ausgeprägt, wobei die Verknüpfung der auditorischen Areale mit dem präfrontalen Cortex dafür bekannt ist, eine wichtige Rolle in der bewussten Geräuschwahrnehmung und auch bei Tinnitus zu spielen. Auch gab es in Bereichen des Hinterhauptslappens messbare Differenzen, also im Areal des Cuneus, ein an der Verarbeitung von visuellen Reizen beteiligtes Areal. Da es aber funktionelle Verknüpfungen zwischen den auditorischen und visuellen Regionen gibt, kann Tinnitus gängiger Vorstellung nach auch zu einer anormalen Aktivität im Cuneus führen. Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz war es möglich, die Nah-Infrarot-Daten mit 78 bis 87 prozentigen Treffsicherheit den beiden Gruppen zuordnen.
Neuere Forschungen von Christopher R. Cederroth zeigen, dass auditive Hirnstammreaktionen möglicherweise ein objektives Diagnoseinstrument zur Identifizierung eines konstanten Tinnitus darstellen, wobei man damit die Aktivität des Gehirns als Reaktion auf eine bestimmte Abfolge von Schallreizen misst. Es ist wichtig, dass man eine objektive Diagnosemethode für Tinnitus besitzt, um die Erkrankung der Betroffenen zu erkennen, sodass sie richtig behandelt werden können und um die Entwicklung neuer Therapien voranzutreiben. Die Forschungsergebnisse deuten auf einen kausalen Zusammenhang zwischen bestimmten Veränderungen in der neuronalen Aktivität des Gehirns und der Entwicklung eines konstanten Tinnitus hin. ForscherInnen haben 405 Personen untersucht, von denen 228 über Tinnitus klagten, wobei sich die Messergebnisse von Erkrankten stark von denen der gesunden Probanden unterschieden und auch von denen, die nur zeitweise störende Geräusche vernahmen. Zudem beobachteten man 20.000 Probanden mit konstantem und temporärem Tinnitus sowie Gesunde über einen längeren Zeitraum, um herauszufinden, wie sich der Gesundheitszustand änderte. Es zeigte sich, dass Menschen, die zeitweise unter Tinnitus leiden, ein hohes Risiko haben, dass sich die Geräusche im Ohr zu einer Dauerbelastung entwickeln. Diese Erkenntnisse sind bedeutsam, damit Menschen mit gelegentlichem Tinnitus sich der Risiken bewusst werden und die Chance haben, präventiv zu handeln. Die Behandlungsmöglichkeiten sind allerdings in den meisten Fällen eng begrenzt, wobei aber eine kognitive Verhaltenstherapie Betroffenen allerdings oft helfen kann, mit den Ohrgeräuschen besser zurechtzukommen und die Lebensqualität zu verbessern.
Literatur
Shoushtarian, Mehrnaz, Alizadehsani, Roohallah, Khosravi, Abbas, Acevedo, Nicola, McKay, Colette M., Nahavandi, Saeid & Fallon, James B. (2020). Objective measurement of tinnitus using functional near-infrared spectroscopy and machine learning. Public Library of Science, doi:10.1371/journal.pone.0241695.
https://www.ata.org/sites/default/files/Tinnitus_Handicap_Inventory.pdf (12-12-03)
https://www.pressetext.com/news/tinnitus-laesst-sich-im-gehirn-nachweisen.html (22-01-28)
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