Jörg von Irmer und Inge Seiffge-Krenke
Der Einfluss des Familienklimas und der Bindungsrepräsentation auf den Auszug aus dem Elternhaus
Bisheriger Forschungsstand
Die Gründe für den Auszug aus dem Elternhaus sind bereits oft Thema einer soziologischen Studie gewesen (vgl. von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 69). So konnte herausgefunden werden, dass Frauen in Europa im Durchschnitt etwa zwei bis drei Jahre vor den Männern ausziehen (vgl. Fernandez-Cordon 1997, zit. nach von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 69), dass in südeuropäischen Ländern generell später ausgezogen wird (vgl. Le Blanc & Wolff 2006, zit. nach von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 69), Personen ohne Partner länger zu Hause bleiben oder junge Erwachsene, die in Miete wohnen, früher ausziehen (vgl. Lauterbach & Lüscher 1999, zit. nach von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 70).
Psychologische Studien über das Auszugsverhalten gibt es aber vergleichsweise selten. Gründe dafür liegen einerseits in der Schwierigkeit diesen komplexen Prozess genau zu analysieren, andererseits an den nötigen Längsschnittuntersuchungen, für welche es Zeit und Geld braucht. Verfügbare amerikanische Studien sind aufgrund des gesellschaftlichen Unterschieds nicht mit europäischen vergleichbar, deutsche Studien hingegen haben sich deutlich mehr dem Erleben des Auszuges gewidmet (vgl. von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 70). Dabei konnte festgestellt werden, dass Jugendliche dem Auszug positiv gegenüberstehen, während Eltern mit negativen Gefühlen kämpfen (vgl. Papastefanou 1997, zit. nach von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 70). Moser (1996, zit. nach von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 70) stellte beispielsweise fest, dass die Entscheidung auszuziehen entscheidend davon abhängt, wie weit es der Familie gelungen ist eine passende Balance zwischen Abgrenzung und Verbundenheit zu etablieren.
Die Studie
Aus den Überlegungen heraus, welche Auswirkungen familiäre Beziehungen während der Adoleszenz auf das spätere Auszugsverhalten junger Erwachsener haben, entstand diese Studie. Dabei wurde ein besonderer Augenmerk auf drei Aspekte gelegt: Zuerst wurde die Konfliktneigung während der Adoleszenz beobachtet, des Weiteren die Unterstützung von Selbstständigkeitsbestrebungen der Jugendlichen untersucht und als drittes zentrales Merkmal die Qualität der Familienbeziehung (Bindungsrepräsentation) betrachtet. Die deutsche Studie begann im Jahr 1993 an 93 Teilnehmern im Alter von 14 Jahren. Die Beobachtungsgruppe entsprach der repräsentativen Stichgruppe der deutschen Bevölkerung und wurde bis ins Alter von 26 Jahren untersucht. Dazu wurden hauptsächlich zwei Methoden verwendet: Das Family Environment Scale (FES) wurde an den Jugendlichen und deren Eltern im Alter von 14, 15, 16 und 17 Jahren durchgeführt. Es erfasste durch einen Fragebogen das innerfamiliäre Klima anhand der Skalen Konfliktneigung und Selbstständigkeit. Als zweites Instrument fungierte das Adult Attachment Interview (AAI), welches versuchte die Bindungsrepräsentation von Jugendlichen und Erwachsenen zu erfassen. Dabei wurden in einem Interview, durchgeführt von einem geschulten Personal, die Beziehungen zur Familie analysiert, wobei ein besonderes Merkmal auf Kindheitserlebnisse lag. Der Inhalt spielte dabei eine untergeordnete Rolle, wichtiger waren die Widerspruchsfreiheit und die Ausführlichkeit der Erzählungen. Dieser Test wurde durchgeführt als die Teilnehmer 21 Jahre alt waren. Danach wurden die jungen Erwachsenen nur noch jährlich befragt, ob sie noch zu Hause leben oder bereits ausgezogen waren (vgl. von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 71 ff).
Die ermittelten Ergebnisse wurden schlussendlich den Teilnehmern zugeordnet, welche in drei Teilgruppen aufgespalten wurden. Die rechtzeitig Ausziehenden stellten jene Gruppe dar, die die Hälfte der Stichprobe repräsentierten; in diesem Fall alle Frauen die bis 21 und alle Männer welche bis zum Alter von 22 Jahren ausgezogen waren. Als Nesthocker wurden jene Personen (14 %) bezeichnet, welche mit 26 Jahren noch im Elternhaus wohnten und die dritte Gruppe stellten jene Personen, die verspätet auszogen (zwischen 21/22 und 26 Jahren) oder schon ausgezogen waren und wieder zurück ins Elternhaus zogen (vgl. von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 73 f).
Nun konnten interessante Beobachtungen gemacht werden. Die Forscher stellten fest, dass Familien von rechtzeitig Ausziehenden während der Adoleszenz durchwegs von höheren Konfliktraten berichten, als die von späteren Nesthockern. Dabei sprachen die Mütter von höheren Konfliktraten als die Väter, was mit dem traditionellen Rollenbild zusammenhängen kann. Bei der Ermittlung der Selbstständigkeit von Jugendlichen konnte ein linearer Anstieg über die Jahre bei allen Gruppen beobachtet werden. Bei späteren Nesthockern lag sie im Alter von 14 und 15 Jahren allerdings noch signifikant unter jenen, die später rechtzeitig ausziehen, erst mit 16 Jahren näherte sich dieser Wert dem Niveau der anderen Gruppen. Beim dritten beobachteten Faktor, der Bindungsrepräsentation, konnte vor allem beobachtet werden, dass rechtzeitig Ausziehende durchwegs eine sichere Bindung an ihre Eltern entwickelt haben, während die unsicheren Bindungsrepräsentationen bei den Nesthockern und den Spätauszieher/wieder Eingezogenen überpräsentiert sind (vgl. von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 74 ff).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwar die Gründe für den Auszug aus den Elternhaus in den vergangenen Jahrzehnten an Komplexität gewonnen haben, dass aber neben den soziodemographischen Einflussgrößen auch das Familienklima und die Bindungsrepräsentation auf das Auszugsverhalten einwirken (vgl. von Irmer & Seiffge-Krenke 2008, S. 77).
Verwendete Literatur
Von Irmer, J. & Seiffge-Krenke, I. (2008). Der Einfluss des Familienklimas und der Bindungspräsentation auf den Auszug aus dem Elternhaus. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 40, 69-78.
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Das ist keine Frage, da stimme ich dir natürlich voll und ganz zu