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Neugier, Spiel und Lernen

Alle verschiedenen Säugetierarten haben charakteristische Unterschiede in ihren Lebensweisen. Eine Gemeinsamkeit stellt jedoch die Tatsache dar, dass jedes Jungtier oder Kind einen sehr ausgeprägten Drang zur Neugierde hat. Es besteht eine autonome Motivation, welche zum Erkunden von neuen Situationen und Objekten führt. Dadurch verbessern Jungtiere Objekt- und Raumkenntnisse und lernen aus ihren neu gemachten Erfahrungen, was ihnen im späteren Leben sehr nützlich sein kann (vgl. Sachser 2004, S. 476f).

Das Neugier- und das Spielverhalten zeigen viele Übereinstimmungen und eine strikte Trennung dieser beiden Begriffe ist oft nicht möglich. Mit dem Begriff Spielverhalten bringt man das Fehlen des spezifischen Ernstbezugs in Verbindung. Normalerweise kommt es nur bei Jungtieren oder Kindern vor, jedoch kann es auch beschränkt, vor allem bei Primaten und Menschen, bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben (vgl. Sachser 2004, S. 476f).

Es gibt drei Spielweisen des Säugetieres:

  • Bewegungsspiel
  • Objektspiel: Darunter versteht man das Spielen mit unbelebten Gegenständen.
  • Sozialspiel: Dieser Begriff definiert das Spielen mit Artgenossen (vgl. Sachser 2004, S. 476).

Durch diese drei Spielweisen werden Muskelfunktionen, die Wahrnehmungsfähigkeit und soziale Rollen entwickelt, geübt und verbessert.

Es werden nicht nur neue Erfahrungen gemacht, sondern auch Innovationen gebildet. In dem Artikel wird dies anhand des, inzwischen zur Tradition gewordenen, „Kartoffelwaschens“ der Rotgesichtmakaken verdeutlicht. Innovationen werden meist von einem Jungtier entwickelt und dann von einer Bezugsperson übernommen, später werden diese Neuheiten durch die ältere Generation an die nachfolgende weitergegeben (vgl. Sachser 2004, S. 476f).

Zur Ausbildung eines Neugier- und Spielverhaltens muss ein entspanntes Feld gegeben sein. Dieses ist von Anregung durch Reize und Sozialpartner und einem gewissen Maß an Sicherheit geprägt. Beim Fehlen von äußeren Reizen oder Sozialpartnern reduziert sich das Spielverhalten um ein Vielfaches, was man an Labortieren gut erkennen kann. Ebenso wird diese reduzierte Verhaltensweise bei einem Mangel an Sicherheit beobachtet. Wenn die Grundbedürfnisse nicht oder nur mangelhaft gedeckt sind, wird nur ein geringfügiges Spielverhalten ausgebildet.
Für die verschiedenen Verhaltensentwicklungen sind frühe soziale Erfahrungen, Strukturierung des Umfelds und pränatale Einflüsse mit verantwortlich. Es macht in der Art und Weise wie Tiere oder Menschen später auf Neues zugehen einen großen Unterschied, ob diese in einem Sozialverband mit gegebener Sicherheit oder alleine aufwachsen. Letztgenannte werden lebenslang Probleme mit dem Aufbau von Sozialbeziehungen zu Artgenossen und Kommunikation haben. Je strukturierter das Umfeld eines Individuums ist und je mehr verschiedene Reize es kennen lernt, desto leichter werden ihm Problemlösungsaufgaben, das Meistern unbekannter Situationen und das Akzeptieren neuer Objekte fallen. Diese Tatsache hängt mit dem Zentralnervensystem zusammen, welches mit Zunahme einer strukturierten Umwelt mehr Synapsen ausbildet und somit eine bessere Informationsspeicherung gewährleistet. Auch pränatale Einflüsse wirken sich auf das spätere Verhalten aus. Dabei werden Veränderungen des Umfeldes der trächtigen/schwangeren Mutter durch Hormone an das Kind weitergegeben, welches dann im späteren Leben ähnliche Verhaltensweisen wie die Mutter in dieser Situation aufzeigt.

Ebenso wie die pränatale und die frühe postnatale Phase zeigt auch die Pubertät eine große Wirkung auf spätere Lebensweisen und Einstellungen. Dabei wird durch Interaktionen mit Artgenossen die Fähigkeit zum Zusammenleben erworben. Bei hoch entwickelten Säugetieren bleibt diese Lernfähigkeit erhalten, weshalb ein lebenslanges Lernen möglich ist. Das Umlernen etwas bereits Angenommenen ist bei Säugetieren jedoch schwierig (vgl. Sachser 2004, S. 478ff). Die Verhaltensentwicklung hängt von vielen verschiedenen Faktoren, wie zum Beispiel von Reizen der Umwelt, Geschlecht, Alter, Erfahrungen, ab. Experten fanden heraus, dass Gene durchaus einen Einfluss auf das Verhalten von Säugetieren haben, jedoch nur in Wechselwirkung mit Umwelt-Interaktionen und den anderen Faktoren (vgl. Sachser 2004, S. 480f).

Ebenso wie bei Jungtieren ist auch bei Kindern der natürliche Drang zur Neugier und zum Spiel vorhanden, jedoch bedarf es an Faktoren, die dieses Verhalten fördern. Die Aufgabe solche Faktoren zu bilden, liegt in der elterlichen Erziehung und der pädagogischen Kompetenz der Lehrpersonen. Es gilt möglichst viele entspannte Felder zu schaffen, um eine intrinsische Motivation der Lernvorgänge zuzulassen. Somit wird ein Lernen durch Neugier und Spiel, ein Erkunden und Erfinden von Neuem und das Bilden von eigenen Problemlösungsstrategien unterstützt. Für die Erziehungswissenschaft und Pädagogik gilt es die Eigenschaften eines entspannten Feldes mit den Eigenschaften des Kindes abzustimmen. Das entspannte Feld sollte so beschaffen sein, dass Anregungen und Sicherheit durch Bezugspersonen gegeben sind, jedoch keine Langeweile oder Überanregung besteht. Dadurch wird die optimale Lernkonzentration geschaffen (vgl. Sachser 2004, S. 481ff).

Übrigens: Diese Lust auf Neues verändert sich aber  im Laufe des Lebens, denn ein Fünfjähriger stellt weit über fünfzig Fragen pro Tag, während ein Erwachsener im Durchschnitt nur noch fünf Fragen stellt und diese Frequenz erst im Rentenalter wieder ansteigt.

Spielen und Lernen

Nur aus Enthusiasmus kann Neugierde entstehen, und nur wer neugierig ist, kann lernen.
Leonard Bernstein

Spielen ist die elementarste Form des Lernens, sodass aus entwicklungspsychologischer Sicht Spielen und Lernen nicht getrennt voneinander behandelt werden können, da sie einander für die kindlichen Lernerfahrungen bedingen. Aus biologischer Sicht ist Spielen ein Grundbedürfnis und zentrales Verhaltenssystem des Menschen, was man daran sehen kann, dass das Spiel, das von eine Kleinkind frei gewählt wird und aus eigenem Antrieb erfolgt, seine Entwicklung stark beeinflusst, denn es spricht die geistige, soziale, emotionale, motorische und kreative Entwicklung an. Spielen ist somit eine wesentliche Voraussetzung für späteres schulisches Lernen und somit ein Bildungsprozess, der durch das Experimentieren in Gang gesetzt wird. Im Spiel lernt ein Kleinkind, sich mit der Umwelt vertraut zu machen, diese zu begreifen und zu bewältigen, daher ist das Spiel für das aktuelle Erleben ebenso bedeutsam wie für die Persönlichkeitsentwicklung. Die frühere Sichtweise, Spielen sei ein zweckfreies Tun, während Lernen eine sinnvolle, zweckgebundene Aneignung von Wissen und Können darstellt, ist daher überholt.

In der frühen Kindheit sieht das Kind selber noch keinen Unterschied zwischen Spielen und Lernen, denn beides tut es stets aus der gleichen Intention heraus: Es möchte möglichst viel von den Dingen und seiner Umwelt kennenlernen und mit ihnen Erfahrungen sammeln. Beobachtet man aufmerksam ein Kleinkind beim Spielen, findet man eine bestimmte Art der Vertiefung, die stark der Konzentration Erwachsener ähnelt, denn das in das Spiel versunkene Kind geht komplett in seiner Tätigkeit auf. Da das Spiel aus der intrinsischen Motivation des Kleinkindes entspringt und keinen äußeren Antrieb benötigt, ist es eine Tätigkeit mit Selbstzweck. Das Spielen regt das Kleinkind in vielfältiger Weise an zu empfinden, zu gestalten und körperliche sowie geistige Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn der Säugling etwa eine Rassel schüttelt, lernt es in dieser Situation, seine Hände fest um den Stiel zu legen und somit seine feinmotorische Fähigkeiten zu üben. Gleichzeitig wird die Wahrnehmung angeregt, wenn das Kind erkennt, dass dieser Gegenstand Geräusche hervorbringt, was dem aktiven Handeln ein Erfolgserlebnis beschert.

Im Spiel erforscht und probiert das Kleinkind unermüdlich immer wieder das aus, was es gerade gelernt hat, damit sich das Wissen vertifen und verfestigen kann. Dabei findet es Verbindungen zwischen seinem eigenen Verhalten und Ereignissen aus der Umwelt. Begleitet werden diese Erfahrungen durch Freude, Spannung, Stolz und Befriedigung, d. h., durch das Spiel erlangt das Kind ein positives Selbstwertgefühl, erfährt Sicherheit und damit Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Im Spiel werden daher wichtige Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht: Das Kleinkind entdeckt, dass es selbst etwas bewirken kann und entdeckt Regelhaftigkeiten sowie Voraussagbares. Erwachsenen sind daher dazu angehalten, Selbstwirksamkeitserfahrungen auch bei Frustrationen des Kleinkindes zuzulassen und auszuhalten, denn indem das Kleinkind eigenständig Herausforderungen zu bewältigen lernt, lernt es auch Grenzen. Insgesamt lernt das Kleinkind durch Frustrationserlebnisse, dass auch negative Gefühle zum Leben gehören und geäußert werden dürfen, und dass es fähig ist, etwas zu erreichen, auch wenn es anstrengend ist.

Die Bedeutung von Spielen für die soziale Entwicklung

Sachser (2004) weist darauf hin, dass die Verhaltenssysteme Neugier und Spiel viele Übereinstimmungen aufweisen und kaum voneinander unterschieden werden können, denn beide werden nicht in jeder beliebigen Situation aktiviert, sondern benötigen ein „entspanntes Feld“, das dadurch gekennzeichnet ist, dass es sowohl Anregung als auch Sicherheit bietet. Brettspiele sind vor allem für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten bei Kindern wichtig, wobei vor allem solche wie „Mensch ärgere dich nicht“ die die Funktion haben, dass man dabei auch lernt, sich an Regeln zu halten. Spiele sind auch ein ideales Experimentierfeld, um Strategien einzuüben, wie man mit Frustration umgeht, denn auch in einem solchen einfachen Spiel spiegeln sich etwa Verhaltensweisen und Konflikte unter Geschwistern aus dem Alltag wider. Und auch Eltern benutzen das Spiel unbewusst, um ihren Kindern bestimmte Situationen zu verdeutlichen, doch meist wird einfach gespielt, weil es Spaß macht. Vor allem in Spielen mit einem Kompromiss zwischen Taktieren und Glück ist es möglich, dass sich die Kinder nicht den Erwachsenen unterlegen fühlen müssen. Vor allem „Mensch ärgere dich nicht“ mit seinen auch für kleinere Kinder einfachen Regeln bietet eine gute Gelegenheit für soziale Interaktion, denn bei diesem Spiel gibt es so viele Anlässe, bei denen man erst mal sauer wird, bei denen einer weint und vielleicht das Brett schmeißt, wobei die Älteren die Kinder aufmuntern können: „Komm, das ist doch nicht schlimm“, „das ist doch nur ein Spiel“. So lernen Kinder nebenbei, die eigenen Emotionen zu kontrollieren und ohne nachhaltigen Schaden zu verarbeiten.


Proyer et al. (2020) haben in einem Online-Experiment ihre Teilnehmer und Teilnehmerinnen eine Woche lang Übungen ausführen lassen, die deren Verspieltheit anregen sollten. Verspieltheit bedeutet in diesem Zusammenhang aber nicht, besonders albern oder unseriös zu sein, sondern verspielte Menschen sollten etwa Spaß an Wort- und Gedankenspielen oder am Spielen an sich zeigen. Eine Gruppe sollte etwa jeden Abend vor dem Schlafengehen drei Situationen aufschreiben, in denen sie sich an diesem Tag spielerisch verhalten hatten. Eine weitere Gruppe sollte versuchen, in einer ungewohnten Situation verspielter als sonst zu handeln, etwa am Arbeitsplatz. Alle Übungen führten insgesamt dazu, dass die Probanden und Probandinnen sich zumindest zeitweise besser fühlten, d. h., die Interventionen erhöhten nicht nur die Verspieltheit, sondern hatten kurzfristig auch Auswirkungen auf das Wohlbefinden und linderten etwa eine Depression. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Verspieltheit auch durch kurze selbst induzierte Interventionen stimuliert werden kann.

Literatur

Proyer, René T., Gander, Fabian, Brauer, Kay & Chick, Garry (2020). Can Playfulness be Stimulated? A Randomised Placebo-Controlled Online Playfulness Intervention Study on Effects on Trait Playfulness, Well-Being, and Depression. Applied Psychology: Health and Well-Being, doi:10.1111/aphw.12220.

Sachser, N. (2004). Neugier, Spiel und Lernen: Verhaltensbiologische Anmerkungen zur Kindheit. Zeitschrift für Pädagogik, 50, 475–485.
Stangl, W. (1997). Stufen der sensumotorischen Intelligenz.
WWW: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/KOGNITIVEENTWICKLUNG/Sensomotorik.shtml (98-11-12)




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Ein Gedanke zu „Neugier, Spiel und Lernen“

  1. Anmerkung zu „4 Lernen DURCH SPIEL UND NEUGIER UNTER DEM GESICHTSPUNKT DER Erziehung UND DER PRAKTISCHE PÄDAGOGIK“…….[..]…Dadurch wird die optimale Lernkonzentration geschaffen

    Norbert Sachser’s Ergebnisse bestätigen „alte“ Ergebnisse der psychologischen Bindungsforschung, wonach eine sichere Eltern- bzw. Mutterbindung exploratives Verhalten fördert, sowie Forschungen zum Spielverhalten von Kindern (Oerter, Montada). Insofern wird durch die Ausführungen von Norbert Sachser „altes“ Wissen wieder in Erinnerung gerufen.

    Allerdings benötigt eine „optimale Lernkonzentration“ weit mehr als diese Voraussetzungen. Denn Lernverhalten resp. Lernkonzentration resultiert nicht schon aufgrund eines „entspannten Feldes“. Lernkonzentration, wie alle Bereiche des Lernens sind multifaktoriell beeinflusst. Dabei existieren auch Faktoren, welche sich der elterlichen Beeinflussbarkeit entziehen.

    Daher halte ich die „pädagogische und psychologische“ Schlussfolgerung von Norbert Sachser für gefährlich, denn:

    Sie suggeriert einen erzieherischen Machbarkeitswahn, welcher de facto so nicht existiert. (=> retroaktive Sozialisation => Temperamentsforschung (Zentner) usw.)

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