Die Gehirnforschung ist zu einer Leitwissenschaft unserer Zeit geworden, aber viele bewegt sich noch immer im Rahmen von Hypothesen und man muss davor warnen, vorschnell Kausalitäten abzuleiten.
In der F.A.Z.-Serie Gehirntraining schreibt Nicole Becker unter dem Titel „Reißt die Zeitfenster zum Lernen auf!“, dass derzeit eine „wahre Flut von Ratgebern zum hirngerechten Lernen“ unter dem Deckmäntelchen der (Neuro-)Wissenschaftlichkeit angeboten werden. Dabei sollen Übungen und Ratschläge nicht nur eine optimierte Hirnentwicklung ermöglichen, sondern auch bei Problemen wie Lese-Rechtschreibschwäche oder Aufmerksamkeitsstörungen therapeutisch wirksam sein. Allerdings gehören die angebotenen Empfehlungen, ebenso wie die dazugehörigen Erklärungen, ins Reich der Neuromythen, das durch die öffentliche Dauerpräsenz der Hirnforschung an neuem Glanz gewonnen hat. „Einige Hirnforscher unterstützen diesen Trend indirekt, indem sie ihren Forschungsergebnissen eine bildungstheoretische und -politische Dimension verleihen, die einer kritischen Betrachtung nicht Stand halten kann. So füllt etwa der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer mit seinen Vorträgen über angeblich neurowissenschaftliche Einsichten zum Lernen und Lehren landauf, landab Stadthallen und reproduziert dabei doch bestenfalls intuitiv Plausibles (Lernen gelingt am besten bei guter Laune; Lehrer sollten sich für ihr Fach begeistern und so weiter). Ebenfalls sehr eindrücklich: der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther, der mit Verweis auf Deprivations- und Bindungsstudien über frontalhirngerechte Erziehung nachdenkt und den Mangel an guten Vorbildern im Allgemeinen und die wachsende Zahl „selbstbezogener Eltern“ im Besonderen für allerlei psychische und soziale Probleme verantwortlich macht.“
*** Hier KLICKEN: Das BUCH dazu! *** Der von der neurowissenschaftlichen Forschung erhobene Anspruch, wesentliche Beiträge zur psychologischen Theoriebildung zu liefern, ist bis heute uneingelöst. Kein einziges mir bisher bekannt gewordenes Forschungsergebnis der Neurowissenschaften hat eine der klassischen psychologischen Theorien auch nur im Wesentlichen erweitert, erschüttert oder gar widerlegt. Vielmehr wird man bei der Lektüre der „neuesten“ Erkenntnisse der Neurowissenschaften an die in jedem älteren Lehrbuch der Geschichte der Psychologie nachzulesenden Theorien erinnert, die schon mehr als hundert Jahre auf dem Buckel haben. Derzeit sind fast alle präsentierten Forschungsergebnisse mehr oder minder Minihypothesen, die derzeit in keiner Weise widerspruchsfrei (ein)geordnet werden können, wobei manche die eine oder andere Erkenntnis aus der Wahrnehmungs- oder Gestaltpsychologie bestätigen kann. Ein Fortschritt der psychologischen Theorienbildung ist aber nicht in Sicht.
Nicole Becker weist auch auf das paradoxe Faktum hin, dass „einerseits so intensiv über die vorgeblich nicht vorhandene Willensfreiheit diskutiert wird, andererseits dann aber beim Lernen von einer beinahe grenzenlosen (Selbst-)Manipulierbarkeit des Gehirns ausgegangen wird.
Die Autorin – sie lehrt Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen – resumiert: „Bei all den vergeblichen Versuchen, aus der Hirnforschung Strategien zum hirngerechten Lernen und Erziehen abzuleiten, wird beharrlich ausgeblendet, dass bislang keine neurowissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die grundsätzlich neue Sichtweisen auf Bildungs- oder Erziehungsprozesse eröffnen. (…) Was die Hirnforschung aktuell bereitstellen kann, ist die Beschreibung neurophysiologischer Korrelate zu einigen pädagogisch relevanten Phänomenen, die man bislang lediglich auf der Verhaltensebene untersuchen konnte.“ Daraus lassen sich aber derzeit keine neuen pädagogischen Interventionsstrategien ableiten.
Siehe dazu auch „Das Gehirn“
Bildquelle: https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/GEHIRN/GehirnFunktion.shtml (08-06-06)
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Oh ja, dem kann man „leider“ zustimmen. …denn die wenigen, wirklich über bisherige psychologische Theorien und Studien hinausführenden, neurowissenschaftlichen Erkenntnisse muss man mit der Lupe suchen…..
Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen und unterstellen, dass der „Neurohype“ – schaut man die Forschungen und im Grunde kaum belegten Behauptungen o.g. Autoren an – einen wissenschaftlichen „Rückschritt“ verursachen. Denn manche Neurowissenschaftler „verkaufen“, dank ihrer geringen Kenntnisse über die bisherigen Forschungen aus der Psychologie u. v. a. der Pädagogischen Psychologie oft sehr „alte“ psychologische Erkenntnisse als völlig Neues. Dabei handelt es sich meist „nur“ um neurophysiologische Korrelate weniger Details….
Die Gelder für das Ulmer Institut wären sicherlich sinnvoller angelegt gewesen, wenn diese in die Sichtung, Sammlung und Verwertung für päd. Handeln relevante psychologische Erkenntnisse investiert worden wäre. Mancher Lehrer wäre erstaunt, wie viele „in vivo“-Studien bereits existieren….Die „Laborsituation“ der Neurowissenschaftler ist für die Erfassung von pädagogisch relevantem Handlungswissen hingegen wenig hilfreich…… (zu den Untersuchungsmethoden und ihre Reichweite hat Stephan Schleim in seinem Buch „Gedankenlesen“ geschrieben: „Bilder“ vom Gehirn und was wirklich „dahinter“ steckt….)
Die „hohe“ Glaubwürdigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse scheint im Übrigen sogar Neurowissenschaftler zu überraschen: Der betörende Nimbus der Neurowissenschaften……
Ein Beispiel, welches zeigt, dass Ergebnisse neurowissenschaftlicher Studien oft mehr Fragen aufwerfen als beantworten und die „wirklichen“ Ergebnisse und Fortschritte in der Psychologie zu finden sind:
„Überraschung“ interdisziplinär betrachtet…….
Im Übrigen kann ich das Buch von Nicole Becker: „Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik“ dazu sehr empfehlen…
Lieber Herr Stangl, eigentlich muss ich mich entschuldigen, angesichts der hier gesetzten Anzahl von Links……. Allerdings weiß ich mir hier nicht anders zu helfen. Denn würde ich meinen Kommentar ohne Links hinterlassen, dann würde ich dasselbe tun wie o.g. Neurowissenschaftler und einfach irgendwelche „unbelegte“ Behauptungen aufstellen 😉
Beste Grüße M.A.