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Stand-by für das Gehirn: Tagträume

    Bei Untersuchungen an Menschen, die im Versuch einfach dazuliegen und nichts zu tun hatten, zeigte sich, dass das Gehirn in solchen Ruhephasen keineswegs abschaltet, vielmehr wird ein weitverzweigtes Basisnetzwerk (default network) aktiv, in welchem das Gehirn die freie Zeit benutzt, um über Vergangenes und Zukünftiges nachzudenken, um zu planen oder Bilanz zu ziehen. Offensichtlich hat das selbstreferenzielle Basisnetzwerk des Gehirns, das sich in Ruhepausen immer wieder einschaltet und Menschen zum Grübeln veranlasst, eine wichtige Funktion. Da beim Tagträumen auch Gehirnareale aktiv sind, die die Gedanken lenken und kontrollieren und damit für die Konzentration zuständig sind, kann man daher schließen, dass das Gehirn kaum unterscheidet, ob man seine Aufmerksamkeit auf äußere Dinge oder auf unsere eigenen Gedanken richtet. Tagträume darf man daher auf keinen Fall nur als etwas Negatives betrachten, denn sie können wertvoll sein, wenn man sie gut kontrollieren kann, d. h., sie unterdrückt, wenn es notwendig ist und ihnen nachgeht, wenn es wichtig ist. Tagträume ermöglichen es etwa, sich aus dem Hier und Jetzt wegzudenken und fungieren als Mittel zur Überbrückung langweiliger Situationen.

    Das menschliche Gehirn ist ein komplexes System mit hochgradig koordinierten Interaktionen zwischen großen spezialisierten Gruppen von Neuronen, den neuronalen Netzen. Die Dynamik und Formbarkeit dieser Netze (Neuroplastizität) bildet die Basis für die Gehirnentwicklung und das Lernen. Als grundlegende Einheit der Neuroplastizität fungieren die Kontaktpunkte zwischen den Neuronen (Synapsen), die die Informationsweitergabe innerhalb des Gehirns sowie zum Rest des Körpers ermöglichen. Alle menschlichen Gedanken, Handlungen, Emotionen und Erinnerungen entstehen dabei in einem Geflecht aus elektrochemischen Signalen, das durch Synapsen vermittelt wird.

    Um bei Probanden Tagträume zu provozieren, ließen amerikanische und schottische Psychologen vier Tage lang immer wieder die gleichen Tests wiederholen. Am vierten Tag bekamen die Teilnehmer zusätzlich neue Aufgaben gestellt, deren Aufbau jedoch dem der bekannten glich. Während der Tests sollten die Probanden angeben, wie häufig ihre Gedanken jeweils abgeschweift waren. Am fünften Tag schließlich zeichneten die Wissenschaftler die Gehirnaktivität der Testteilnehmer auf, während diese die verschiedenen Aufgaben lösten. Die Psychologen haben dabei entdeckt, dass immer dann, wenn ihre Probanden keine anspruchsvollen Aufgaben zu lösen hatten, ihre Gedanken umherzuschweifen begannen. Dabei aktivierte sich standardmäßig ein Netzwerk bestimmter Gehirnregionen, das sich deutlich von dem unterschied, das die Testteilnehmer während Phasen konzentrierter Arbeit nutzten. Je aktiver dieses Netzwerk war, desto intensiver waren nach den Berichten der Probanden auch ihre Tagträume. Die Neigung zu Tagträumen war am deutlichsten, wenn die Probanden gar keinen Tests zu lösen hatten, wobei in diesem Zustand auch die Aktivität eines über das ganze Gehirn verteilten Netzes von Arealen am höchsten war, das die Wissenschaftler das „Standardnetzwerk“ nennen. Das Bearbeiten der Aufgaben verminderte hingegen die Tendenz, die Gedanken umherschweifen zu lassen, und auch die Aktivität des Standardnetzwerkes bei den häufig geübten Tests wurde nur ein wenig, bei den neuen Aufgaben fast vollständig reduziert.

    Anmerkung: Im Schlaf wird das Gedächtnis zwar dadurch gestärkt, dass Erinnerungen gefestigt werden, allerdings findet keine neue Vernetzung statt, d. h., es kommt zu keinen kreativen neuen Gedächtnisinhalten. Die kreative Verarbeitung von Informationen ist im Schlaf also nicht stärker als im Wachzustand, d. h., der Schlaf hat umso weniger Einfluss auf die kreative Verarbeitung von Informationen, je komplexer eine Aufgabe ist.

    Barbara Rohrhofer beschwört in einem Artikel in den OÖN vom 17. April 2015 das Ende der Tagträumerei und beschreibt anschaulich, dass vor allem das Smartphone diesen kreativen Zustand verhindert. Sie zitiert einen Artikel aus der „Zeit“: „Für die junge Generation wird Langeweile zunehmend zu einem unbekannten Geisteszustand. Schließlich trägt man doch ständig ein Handy in der Tasche – und wenn nichts los ist, zieht man es reflexartig heraus, checkt WhatsAPP, liest Facebook, lädt Fotos hoch, ändert seinen Status oder spielt Angry Birds. Auf diese Weise wird Langeweile in unserer Gesellschaft abgeschafft“. Was auf den ersten Blick positiv klingt, weil Langeweile für manche Menschen ein sehr unangenehmes Gefühl darstellt, das sie rastlos und innerlich unruhig werden lässt. Doch braucht das Gehirn auch Phasen des Leerlaufs, um seine Arbeit zu machen, um Dinge zu verarbeiten und verknüpfen zu können.

    Farrell et al. (2024) haben übrigens am Mausmodell untersucht, wie das Gehirn Menschen beim Tagträumen in die Realität zurückholt. Ähnlich wie beim Träumen werden dabei vergangene Ereignisse noch einmal durchlebt, indem das Gehirn die Szenen vor dem inneren Auge abspielt. Dabei erzeugen Neuronen im Hippocampus Sharp-Wave-Ripples, bis zu 200 Millisekunden dauernde synchrone Nervensignale, die die Gedanken mit den Erinnerungen verknüpfen. Bei diesem Phänomen feuern Nervenzellen in einem Teil des Hippocampus, dem Gyrus dentatus, synchrone Signale ab, die etwa 50 Millisekunden dauern. Aus früheren Studien ist bekannt, dass der Gyrus dentatus als Eingang zum Gedächtniszentrum und als Türsteher für eingehende Informationen fungiert. Offensichtlich wirken die Signale des Gyrus dentatus auch beim Tagträumen wie eine Art Wecker, der das Tagträumen unterbricht und dem Menschen hilft, die Welt um sich herum wieder aufmerksam wahrzunehmen.

    Nach der Umfrage eines deutschen Meinungsforschungsinstitutes zücken 44 Prozent der Erwachsenen ein Mobiltelefon, wenn sie nichts weiter zu tun haben, weil sie etwa im Kaffeehaus auf jemanden warten oder im Wohnzimmer auf der Couch liegen und gerade keine Lust zum Lesen oder Fernsehen haben. Bei den 18- bis 24-Jährigen sind es sogar 73 Prozent, die bei jeder Gelegenheit das Smartphone zücken, und das selbst dann, wenn sie Fernsehen oder mit jemandem sprechen. Das Mobiltelefon ist nach Ansicht der klinischen Psychotherapeutin Marina Gottwald die ideale kurzweilige Bespaßung für Kinder und Erwachsene, was dazu führt, dass ein Mensch, der seine Aufmerksamkeit stets auf sein Telefon richtet, wenn er gerade nichts zu tun hat, diese nie nach innen, d. h., auf sich selbst richten kann. Dadurch werden jene Phasen im Alltag verpasst, die man als „ungerichtetes“ Denken bezeichnet. Zwar machen Smartphones die Menschen nicht dumm, aber sie stillen und fördern einen Appetit auf endlose Unterhaltung. Damit schwinden die Auszeiten für das Gehirn und damit auch die Gelegenheit für überraschende Gedanken, die einem gerade in jenen Momenten kommen, in denen man etwa im Zug aus dem Fenster schaut. Die Arbeitsgeschwindigkeit des Gehirns beeinflusst die kreative Leistung, denn für kreative Prozesse ist ein vergleichsweise langsamer Rhythmus förderlich, wobei kreative Menschen nicht langsamer denken. Ein solcher langsamer Gehirnrhythmus entsteht etwa beim Tagträumen, wobei kreative Menschen in der Lage sind, von Phasen der Träumerei auf Phasen der totalen Konzentration umzuschalten, in denen die Intelligenz gefragt ist.
    Dabei setzt sich die Getriebenheit und ständige Aktivität der Eltern auch in Kindern und Jugendlichen fort, d. h., diese werden überfordert und überreizt und haben gar keine Chance mehr, die Voraussetzung für Müßiggang zu entwickeln. Das liegt aber auch daran, dass das reine Nichtstun, und sei es nur für einige Minuten, im allgemeinen nicht positiv bewertet wird. Eltern sollten nach Ansicht von Erziehungsexperten ihren Kindern auch Zeit geben, sich zu langweilen, denn Langeweile ist der Schlüssel zur inneren Balance auch in diesem Alter.

    Psychologen sprechen bei Tagträume eher von aufgabenunabhängigem Denken (task-unrelated thought, denn man denkt ohne Zweck in einem Zustand der Ruhe, d. h., man will nichts, strebt nach nichts, freut sich auf nichts, fürchtet nichts, ist von keinem Bedürfnis getrieben. Dabei klingen Stressreaktionen, die mit zielgerichtetem Denken verbunden sind, ab. Erforscht wurde dieses Phänomen mit einer Technik namens thought sampling, wobei Probanden mit Funkempfängern ausgestattet wurden, die zu verschiedenen Zeiten angepiepst und gefragt wurden, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Dabei zeigte sich, dass Menschen sich in so gut wie allen erdenklichen Situationen mentale Auszeiten nehmen und ins Tagträumen abgleiten. Man hat dabei festgestellt, dass Menschen zehn bis zwanzig Prozent ihrer Zeit mit Tagträumerei verbringen, wobei meist die Aufmerksamkeit von irgendeiner Beschäftigung wie etwa eine Zeitung lesen, einen Brief schreiben, einem anderen Menschen zuhören, in die Ferne schweift.

    Die Vorstellungen beim Tagträumen kommen meist wie aus dem Nichts ins Bewusstsein, ähnlich wie die Träume in der Nacht, wobei im Abstand von neunzig Minuten besonders lebhafte Tagträume kommen, entsprechend dem Rhythmus des traumreichen REM-Schlafs während der Nacht, sodass manche Forscher glauben, dass Tag- und Nachtträume nur verschiedene Schattierungen des gleichen Zustandes sind.

    Menschen unterschätzen die Bedeutung des Tagträumens

    Hatano et al. (2022) haben in sechs Experimenten die Hypothese überprüft, dass Menschen ihre Fähigkeit, diesen Prozess des Nur-Denkens zu genießen, metakognitiv unterschätzen. Die Probanden wurden dabei gebeten, in einem ruhigen Raum zu sitzen und zu warten, ohne etwas zu tun. Es zeigte sich, dass die vorhergesagte Freude und das Engagement der Teilnehmer an der Warteaufgabe deutlich geringer waren als das, was sie dann tatsächlich erlebten. Diese Unterschätzung des reinen Denkens führte auch dazu, dass die Teilnehmer die Warteaufgabe zugunsten einer alternativen Aufgabe – etwa das Abrufen von Internetnachrichten – proaktiv vermieden, obwohl sich ihre Erfahrungen statistisch nicht unterschieden. Diese Ergebnisse deuten auf eine inhärente Schwierigkeit hin, den Wert des Nachdenkens richtig einzuschätzen, was erklären könnte, warum die Menschen es vorziehen, sich zu beschäftigen, anstatt sich im Alltag einen Moment der Reflexion und Fantasie zu nehmen. Man weiß aber auch anderen Untersuchungen, dass Tagträumen und sich mit dem eigenen Denken zu beschäftigen, dabei etwa helfen kann, Probleme zu lösen und die Kreativität zu fördern. Allerdings neigen manche Menschen zu negativen Gedankenschleifen, für die ein solches Schweifen lassen der Gedanken eine Belastung wäre.

    Siehe dazu die Arbeitsblätter „Das menschliche Gehirn“ und „Intelligenz und Kreativität„.


    Praktisches: Aus der Sicht der Psychologie ist Tagträumen eine gute Möglichkeit, neue Perspektiven und Ausblicke auf sein eigenes Leben zu gewinnen. Allerdings ist es nicht so einfach, sich auf Knopfdruck in Tagträumen zu verlieren. In Experimenten fand man heraus, dass viele Menschen auf die Aufforderung, an Ereignisse zu denken, die ihnen Freude machen, meist sehr oberflächliche Aktivitäten wählen, und auf die Aufforderung, an etwas Bedeutsames zu denken, kommen ihnen meist Problem in den Sinn. Für das Tagträumen sollte man aber Themen wählen, die positiv und bedeutsam sind. Daher versuchen Erwachsene zu vermeiden, sich in den eigenen Gedanken zu verlieren, und lenken sich mit Nebensächlichem ab. Die eigenen Gedanken zu genießen, müssen Menschen daher erst üben, und zwar am besten dann, wenn ihr Gehirn gerade mit wenig anderem beschäftigt ist, etwa bei einem Spaziergang.




    Literatur

    Farrell, Jordan S., Hwaun, Ernie, Dudok, Barna & Soltesz, Ivan (2024). Neural and behavioural state switching during hippocampal dentate spikes. Nature, doi:10.1038/s41586-024-07192-8.
    Hatano, A., Ogulmus, C., Shigemasu, H. & Murayama, K. (2022). Thinking about thinking: People underestimate how enjoyable and engaging just waiting is. Journal of Experimental Psychology: General, doi:10.1037/xge0001255.
    Stangl, W. (2024, 25. März). Wie man aus dem Tagträumen wieder in die Realität zurückfindet. Psychologie-News.
    https:// psychologie-news.stangl.eu/5138/wie-man-aus-dem-tagtraeumen-wieder-in-die-realitaet-zurueckfindet.
    http://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/02/psychologie-innere-ruhe-bewusstsein-tagtraeume-hirnforschung (17-04-30)


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