Die neurowissenschaftliche Forschung zeigt immer deutlicher, dass Erinnern kein statischer Vorgang ist, sondern ein dynamischer Prozess, in dem das Gehirn fortwährend auswählt, welche Erfahrungen Bestand haben und welche rasch verblassen. Obwohl Menschen täglich eine Fülle an Eindrücken aufnehmen, gelangt nur ein kleiner Teil davon in das Langzeitgedächtnis. Diese strenge Auswahl ist notwendig, weil das Arbeitsgedächtnis nur begrenzte Kapazitäten besitzt und daher einen präzisen Filter benötigt, um Wichtiges zu bewahren und Unwichtiges auszusondern. Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass dabei vor allem zwei Regionen – der Hippocampus für das Kurzzeitgedächtnis und der Cortex für Langzeiterinnerungen – eine zentrale Rolle spielen. Dieses Modell konnte jedoch nicht erklären, warum manche Erinnerungen nur wenige Wochen überdauern, andere hingegen ein Leben lang präsent bleiben.
Terceros et al. (2025) haben nun gezeigt, dass die Stabilisierung von Erinnerungen nicht durch einen einzigen Mechanismus, sondern durch einen mehrstufigen, regional abgestimmten Prozess erfolgt. Mithilfe eines Virtual-Reality-Modells für Mäuse identifizierten man eine Reihe molekularer Timer, die sich in Hippocampus, Thalamus und Cortex abspielen und gemeinsam darüber entscheiden, ob eine Erfahrung langfristig bestehen bleibt. Früh einsetzende molekulare Programme begünstigen dabei schnelles Vergessen, während später aktive Timer die neuronalen Spuren einer Erinnerung zunehmend verfestigen. Entscheidend ist dabei ein kleines Set an Transkriptionsfaktoren, die als zentral koordinierende „Türsteher“ fungieren. Um die Kausalität dieses Systems zu belegen, wurden gezielt Genabschnitte im Thalamus und Cortex mithilfe der CRISPR-Technologie ausgeschaltet. Es zeigte sich dabei, dass bestimmte Moleküle nicht die Bildung einer Erinnerung beeinflussen, wohl aber deren langfristige Stabilität – und das abhängig von der zeitlichen Phase des Erinnerungsprozesses. Besonders bedeutend sind dabei CAMTA1 für die frühe Aufrechterhaltung über Tage sowie TCF4 und ASH1L für die spätere Stabilisierung über Wochen.
Diese Erkenntnisse münden in das Bild einer thalamokortikalen Transkriptionskaskade, die Erinnerungen aufeinanderfolgend in immer stabilere zelluläre Zustände überführt. Interessant ist zudem, dass ASH1L eng verwandt ist mit Molekülen, die auch im Immunsystem Gedächtnisfunktionen übernehmen, was ein Hinweis darauf ist, dass das Gehirn möglicherweise auf universelle biologische Strategien zurückgreift, um Informationen langfristig zu speichern. Diese Ergebnisse könnten langfristig neue Ansätze für neurologische Erkrankungen eröffnen, bei denen Gedächtnisverlust eine zentrale Rolle spielt – etwa Alzheimer. Wenn es gelingt, die beteiligten Genprogramme gezielt zu aktivieren oder alternative neuronale Pfade zu nutzen, könnten beschädigte Hirnareale umgangen und Erinnerungen stabilisiert werden. Künftig sollt man daher untersuchen, wie das Gehirn die Bedeutung einer Erinnerung bewertet und welcher Mechanismus entscheidet, welche molekularen Timer aktiviert werden. Der Thalamus rückt dabei immer stärker in den Mittelpunkt als entscheidende Instanz, die den Weg einer Erinnerung jenseits ihrer Entstehung im Hippocampus bestimmt.
Literatur
Terceros, A., Chen, C., Harada, Y., Eilers, T., Gebremedhin, M., Hamard, P.-J., Koche, R., Sharma, R., & Rajasethupathy, P. (2025). Thalamocortical transcriptional gates coordinate memory stabilization. Nature, doi:10.1038/s41586-025-09774-6
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