Psychische Störungen werden bisher immer nach dem Vorbild körperlicher Erkrankungen eingeteilt:, d. h., Symptome werden gebündelt, erhalten einen Krankheitsnamen und bestimmen die Behandlung. Experten und Expertinnen kritisieren jedoch, dass dieses System psychische Probleme nur scheinbar klar voneinander abgrenzt, denn während körperliche Diagnosen meist auf nachweisbaren biologischen Ursachen beruhen, beschreiben psychische Diagnosen lediglich beobachtetes Erleben und Verhalten, ohne dass diese Kategorien eindeutig mit biologischen Merkmalen verknüpft wären. Hinzu kommt, dass viele Symptome wie Erschöpfung, Antriebslosigkeit oder Angst alltägliche Erfahrungen sind und die Grenze zwischen „gesund“ und „krank“ unscharf bleibt. Willkürliche Schwellenwerte führen daher dazu, dass manche Betroffene trotz hoher Belastung keine Diagnose erhalten, während andere mehrere Diagnosen zugleich bekommen, was die Unzulänglichkeit der Kategorien unterstreicht.
Um diese Probleme zu überwinden, werden wissenschaftlich begründete Alternativen diskutiert. Das Modell RDoC – Research Domain Criteria wurde von den US-National Institutes of Health entwickelt und löst sich bewusst von traditionellen Krankheitsnamen. Stattdessen untersucht es psychische Störungen anhand grundlegender biologischer, psychologischer und verhaltensbezogener Funktionsbereiche, etwa Emotionsregulation, Wahrnehmung, positive oder negative Motivation. Diese Funktionsbereiche werden durch verschiedene Analyseebenen betrachtet, angefangen von Genen über neuronale Netzwerke bis hin zu beobachtbarem Verhalten. RDoC versucht damit, psychische Probleme aus ihren zugrunde liegenden Mechanismen heraus zu erklären, unabhängig von bestehenden Diagnosegrenzen.
Das zweite Modell, HiTOP – Hierarchical Taxonomy of Psychopathology geht einen anderen, eher klinisch orientierten Weg, denn es ordnet Symptome nicht in feste Krankheitsnamen, sondern analysiert, welche Beschwerden häufig gemeinsam auftreten. Diese Muster werden in einer hierarchischen Struktur zusammengefasst: von einzelnen Symptomen über Syndromgruppen bis hin zu breiteren Dimensionen wie internalisierenden Problemen (z. B. Angst, Depression) oder externalisierenden Problemen (z. B. Impulsivität). Dadurch entsteht ein fein abgestuftes Profil der individuellen Belastungen. HiTOP bildet die tatsächlichen Überschneidungen vieler Störungsbilder ab und erlaubt damit präzisere Aussagen über Schweregrad, Verlauf oder Risiken.
Beide Ansätze zeigen, dass psychische Störungen eher fließende Übergänge und komplexe Zusammenhänge sind als klar abgegrenzte Krankheitskategorien, sodass dimensionale Modelle wie RDoC und HiTOP den individuellen Problembereichen gerechter werden können und vor allem entstigmatisieren, indem sie extreme Ausprägungen normaler Eigenschaften sichtbar machen, und ein passgenaueres Gesundheitssystem ermöglichen, das Behandlungen und Unterstützungsangebote stärker am tatsächlichen Schweregrad orientiert.
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