Neurodegenerative Erkrankungen beeinflussen unterschiedliche Bereiche des Gehirns – vom Gedächtnisverlust bei Alzheimer über Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen bei frontotemporaler Demenz bis hin zu motorischen Einschränkungen bei Parkinson. Mit diesen Veränderungen kann auch das Risiko einhergehen, dass Betroffene soziale und rechtliche Normen verletzen. Besonders in frühen Krankheitsstadien zeigen sich bei manchen Patientinnen und Patienten erstmals im Leben Handlungen wie Verkehrsdelikte, Diebstahl, Belästigung oder aggressives Verhalten. Solche Verhaltensweisen stellen Familien, das soziale Umfeld und nicht zuletzt das Rechtssystem vor große Herausforderungen, da sie häufig nicht aus krimineller Absicht, sondern aus krankheitsbedingter Enthemmung entstehen.
Eine groß angelegte Metaanalyse von Schroeter, Žuvela und Szabo (2025), die 14 Studien mit insgesamt 236.360 Personen aus den USA, Skandinavien, Deutschland und Japan einbezog, untersuchte systematisch die Prävalenz kriminellen Risikoverhaltens bei verschiedenen Demenzformen. Die Ergebnisse zeigen ein konsistentes Bild: Besonders häufig tritt dieses Verhalten bei der Verhaltensvariante der frontotemporalen Demenz auf, wo mehr als die Hälfte der Betroffenen Auffälligkeiten zeigte. Auch bei der semantischen Variante der primär progressiven Aphasie waren die Zahlen hoch (40 %). Demgegenüber waren die Prävalenzen bei vaskulärer Demenz und Huntington-Krankheit (je 15 %), bei Alzheimer (10 %) und insbesondere bei Parkinson-Syndromen (<10 %) deutlich geringer. Auffällig ist zudem, dass Männer mit Demenz signifikant häufiger kriminelles Risikoverhalten zeigen als Frauen – bei frontotemporaler Demenz etwa viermal so häufig, bei Alzheimer sogar siebenmal so häufig.
Ein entscheidender Befund ist, dass das Auftreten von Regelverstößen oder Straftaten im mittleren Erwachsenenalter ein möglicher Hinweis auf den Beginn einer neurodegenerativen Erkrankung sein könnte. Im späteren Krankheitsverlauf sinkt das Risiko dagegen unter das Niveau der Allgemeinbevölkerung. Neuere neurobiologische Untersuchungen belegen, dass insbesondere bei frontotemporaler Demenz eine Atrophie im Temporallappen mit solchen Verhaltensweisen zusammenhängt, was auf krankheitsbedingte Enthemmung hinweist – also auf einen Verlust normaler Hemmungen und Kontrollmechanismen im Umgang mit Impulsen und Emotionen.
Trotz der Brisanz mahnen die Forschenden zur Differenzierung: Die meisten registrierten Vorfälle betreffen eher Bagatelldelikte wie Verkehrsverstöße, unangemessenes Verhalten oder kleinere Eigentumsdelikte. Gleichwohl gibt es auch Fälle körperlicher Aggression. Um Betroffene nicht zusätzlich zu stigmatisieren, sind Sensibilität, eine frühzeitige Diagnose sowie geeignete therapeutische und rechtliche Strategien erforderlich. Dazu gehören auch Überlegungen, wie das Rechtssystem auf Krankheits-bedingte Straftaten reagieren sollte – etwa durch Anpassungen im Strafvollzug oder durch Schulungen für Justiz und Polizei.
Insgesamt verdeutlicht die Forschung, dass kriminelles Risikoverhalten ein unterschätztes Symptom bestimmter Demenzformen ist und wertvolle Hinweise für die Früherkennung liefern kann. Gleichzeitig stellt es eine interdisziplinäre Herausforderung dar, die medizinische, gesellschaftliche und rechtliche Maßnahmen erfordert, um Betroffenen gerecht zu werden und das Umfeld zu schützen.
Literatur
Schroeter, M. L., Žuvela, M., & Szabo, L. (2025). Criminal minds in dementia: A systematic review and quantitative meta-analysis. Translational Psychiatry, 15(1), 324.
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