Der grundsätzliche Unterschied zwischen Objekten und Substanzen liegt in ihrer physischen Beschaffenheit: Ein Objekt ist ein stabiles, zusammenhängendes Ganzes, während eine Substanz wie Wasser, Sand oder Honig aus vielen beweglichen Teilen besteht oder formveränderlich ist. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die alltäglichen Handlungen, denn man greift einen Ball, während man für Flüssigkeiten Werkzeuge wie Löffel, Schalen oder Flaschen benötigt. Bereits Säuglinge erkennen diesen Unterschied intuitiv, was auf angeborene, tief in der Wahrnehmung verankerte Mechanismen schließen lässt. Ob Menschen also nach einen Ball greifen oder Shampoo aus einer Flasche gießen, ihr Gehirn erkennt instinktiv, ob es sich bei einem Gegenstand um ein solides Objekt oder eine formveränderliche Substanz handelt. Diese Unterscheidung erscheint selbstverständlich, doch sie basiert auf bemerkenswert komplexen neuronalen Mechanismen. Eine Studie von Paulun et al. (2025) hat nun gezeigt, dass das Gehirn feste Objekte und formlose Substanzen auf getrennten Verarbeitungswegen analysiert, wobei man vermutet, dass das Gehirn dabei ähnlich arbeitet wie moderne 3D-Grafikprogramme.
Die bisherige Forschung konzentrierte sich weitgehend auf die visuelle Verarbeitung fester Objekte, wobei der Laterale Okzipitalkomplex (LOC) im visuellen Cortex eine Schlüsselrolle bei der Erkennung dreidimensionaler Formen spielt. Darüber hinaus analysiert das frontoparietale Netzwerk (FPN) Eigenschaften wie Gewicht, Stabilität oder Materialbeschaffenheit, also Aspekte, die essenziell für die Einschätzung der physikalischen Eigenschaften von Objekten sind. Doch wie reagiert das Gehirn auf nicht-feste Materialien wie Flüssigkeiten oder Granulate? Die Studie von Paulun et al. (2025) ging dieser Frage mit Hilfe funktionaler Magnetresonanztomografie (fMRT) nach, wobei den Versuchspersonen über hundert kurze Videoclips gezeigt wurden, in denen entweder feste Objekte wie elastische Bälle oder verschiedene Substanzen wie Wasser oder Pulver unterschiedliche Bewegungen ausführten, d. h., sie fielen, rollten oder schwangen in durchsichtigen Behältern. Währenddessen zeichnete die fMRT die Aktivitätsmuster in den beiden oben genannten Hirnarealen auf.
Die Ergebnisse offenbaren eine doppelte Dissoziation in der visuellen Verarbeitung: Beide Hirnnetzwerke – LOC und FPN – reagieren sowohl auf Objekte als auch auf Substanzen. Entscheidend ist jedoch, dass dies jeweils in getrennten Unterbereichen geschieht. So zeigt sich etwa, dass bestimmte Abschnitte des LOC bevorzugt auf feste Objekte reagieren, während andere eher Substanzen verarbeiten. Ein ähnliches Muster zeigt sich im FPN, das bei beiden Kategorien unterschiedliche physikalische Merkmale bewertet, jedoch ebenfalls in spezialisierte Unterareale aufgeteilt ist. Dies legt nahe, dass unser Gehirn zwei parallele Verarbeitungssysteme nutzt – eines für Objekte, das andere für Substanzen.
Dieser Verarbeitungsmodus erinnert an Verfahren aus der Computerwelt, denn in Grafikprogrammen werden feste Körper durch Gitternetze dargestellt, während Flüssigkeiten oft als Partikelströme modelliert werden. Auch hier findet eine Unterscheidung zwischen formstabilen und formveränderlichen Entitäten statt, die unterschiedliche Rechenverfahren erfordert. Man vermuter nun, dass das menschliche Gehirn ähnliche mentale „Algorithmen“ nutzt, um flexibel auf die physikalischen Anforderungen der Umwelt reagieren zu können. Sobald also visuelle Reize eine der beiden Kategorien nahelegen, wird offenbar der entsprechende neuronale Verarbeitungsweg aktiviert. Diese Ergebnisse werfen auch ein neues Licht auf die frühkindliche Kognition, denn die Tatsache, dass bereits Säuglinge zwischen Objekten und Substanzen unterscheiden können, lässt vermuten, dass diese neuronale Zweiteilung angeboren ist oder sich sehr früh herausbildet. Sie dürfte eine evolutionäre Grundlage dafür darstellen, dass Menschen so geschickt mit der physischen Welt interagieren, sei es beim Trinken, Kochen, Bauen oder Spielen. Offenbar ist die visuelle Wahrnehmung keine bloße Abbildung der Außenwelt, sondern ein hochdynamischer, strukturierter Prozess, bei dem das Gehirn mit erstaunlicher Präzision zwischen den physikalischen Eigenschaften von Objekten der Umwelt unterscheidet.
Literatur
Paulun, V. C., Pramod, R. R. T., Tenenbaum, J. B., & Kanwisher, N. (2025). Dissociable cortical regions represent things and stuff in the human brain. Current Biology, 35, doi:10.1016/j.cub.2025.07.027.
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