Vergebung wird häufig als ein moralisches Ideal oder ein Mittel zur Versöhnung betrachtet. Doch über die ethischen und sozialen Dimensionen hinaus wirft sie auch psychologische Fragen auf: Wie verändert Vergebung unsere Erinnerung an vergangenes Unrecht? Wird durch das Vergeben die Erinnerung selbst abgeschwächt oder lediglich unsere emotionale Reaktion darauf? Eine Studie von Fernández-Miranda et al. (2025) beleuchtete diese Fragen, wobei im Zentrum der Untersuchung die Unterscheidung zweier theoretischer Erklärungsmodelle stand: das episodische Verblassen und das emotionale Verblassen.
Die Theorie des episodischen Verblassens geht davon aus, dass Vergebung nicht nur das emotionale Erleben, sondern auch die lebendige und detailreiche Erinnerung an ein Unrecht schwächt, während das emotionale Verblassen hingegen postuliert, dass die inhaltliche Qualität der Erinnerung erhalten bleibt, während sich lediglich deren emotionale Intensität verändert. Um diese Hypothesen zu prüfen, führte man vier Studien mit insgesamt 1.479 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch, die reale Situationen schilderten, in denen sie Unrecht erfahren hatten.
Die Ergebnisse sprachen eindeutig für das Modell des emotionalen Verblassens, denn Menschen, die vergeben hatten, erinnerten sich genauso klar und detailreich an die Ereignisse wie jene, die keine Vergebung ausgesprochen hatten. Dennoch berichteten sie über deutlich geringere emotionale Belastung beim Erinnern und bewerteten auch das moralische Gewicht der Übertretung als weniger gravierend. Dies legt nahe, dass Vergebung einen innerpsychischen Prozess der emotionalen Neubewertung anstößt, ohne die Fakten des Erlebten zu verwässern. In einer der Studien zeigte sich darüber hinaus, dass Vergebung mit einem geringeren Bedürfnis nach Rache und Vermeidung einhergeht und stattdessen die Bereitschaft zur wohlwollenden Haltung gegenüber dem Täter fördert.
Das ist folgt, dass etwa bei therapeutische Praktiken die Erkenntnis, dass Vergebung als emotionaler Transformationsprozess wirken kann, ohne Erinnerungen zu verfälschen, neue Perspektiven auf Heilung und Versöhnung nach zwischenmenschlichen Verletzungen eröffnet. So kann sie dazu beitragen, emotionale Distanz zu schaffen, ohne die Authentizität des Erlebten zu kompromittieren; ein Aspekt, der insbesondere in der Arbeit mit Trauma- und Konfliktbewältigung von Bedeutung sein könnte.
Vergebung ist daher weniger ein Akt des Vergessens ist als vielmehr ein Prozess emotionaler Rekalibrierung, die es Menschen erlaubt, sich mit dem Schmerz der Vergangenheit auseinanderzusetzen, ohne dass dieser Schmerz dauerhaft das Erinnerte dominiert.
Literatur
Fernández-Miranda, G., Stanley, M., Murray, S., Faul, L., & De Brigard, F. (2025). The emotional impact of forgiveness on autobiographical memories of past wrongdoings. Journal of Experimental Psychology, doi:10.1037/xge0001787
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