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Neurobiologische Grundlagen des sozialen Wandels in der Adoleszenz

    Die Adoleszenz ist eine Phase tiefgreifender Veränderungen, und zwar nicht nur in körperlicher und emotionaler Hinsicht, sondern auch auf neurobiologischer Ebene. Eine Studie von Abrams et al. (2022) zeigte, dass sich die Aktivierungsmuster im Gehirn Heranwachsender bei der Wahrnehmung von Stimmen deutlich von denen jüngerer Kinder unterscheiden. Während bei Kindern unter zwölf Jahren die Stimme der Mutter spezifische Reaktionen in Hirnarealen auslöst, die für Belohnungsverarbeitung, emotionale Bewertung und soziale Bindung zuständig sind, kehrt sich dieses Muster bei Jugendlichen ab etwa 13 Jahren um. Die Stimmen fremder Personen aktivieren dann vermehrt Areale wie den Nucleus accumbens sowie den ventromedialen präfrontalen Cortex – Regionen, die zentrale Rollen in der Verarbeitung sozialer Reize und bei der motivationalen Bewertung spielen. Diese neurologische Umorientierung steht offenbar im Zusammenhang mit der entwicklungspsychologisch bedeutsamen Hinwendung zu neuen sozialen Bezugspersonen außerhalb der Familie.

    Die Untersuchung umfasste Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 16,5 Jahren. Um semantische oder emotionale Einflüsse zu vermeiden, wurden kurze, bedeutungslose Pseudowörter durch die jeweiligen Mütter sowie durch zwei fremde Frauen eingesprochen. Alle probandinnen und Probanden erkannten die Stimmen ihrer Mütter mit über 97 % Genauigkeit. Dennoch zeigten sich bei den fMRT-Scans signifikante Unterschiede in der neuronalen Reaktion: Im Vergleich zu jüngeren Kindern war bei den Jugendlichen eine deutlich stärkere Aktivierung in stimmsensitiven Arealen wie dem superioren temporalen Sulcus, in Salienznetzwerken zur Relevanzbewertung von Informationen sowie im posterioren cingulären Cortex, einem Zentrum autobiografischer und sozialer Gedächtnisprozesse, festzustellen. Bemerkenswert war zudem, dass Jugendliche zwar generell eine höhere neuronale Reaktion auf alle Stimmen zeigten, der Unterschied zwischen bekannten und unbekannten Stimmen aber gerade im Belohnungssystem eine deutliche Wende markierte. Während jüngere Kinder verstärkt auf die Stimme ihrer Mutter reagierten, war bei den Jugendlichen die Aktivierung bei fremden Stimmen höher, ein Phänomen, das unabhängig vom Geschlecht auftrat. Dieses „Umschalten“ des Belohnungssystems zwischen dem 13. und 14. Lebensjahr markiert offenbar ein biologisches Signal, das den Weg zur sozialen Unabhängigkeit ebnet. Dieser neurobiologische Perspektivwechsel bietet eine neue Erklärung für das Verhalten vieler Jugendlicher, das von Eltern häufig als Widerstand oder Ablehnung erlebt wird. Das Ignorieren elterlicher Bitten oder die intensive Zuwendung zu Gleichaltrigen ist demnach keine reine Trotzreaktion, sondern vielmehr ein Ausdruck eines neurologisch bedingten Wandels in der sozialen Wahrnehmung. Wesentlich ist dabei, dass sich Jugendliche dieser Veränderung nicht bewusst sind. Übrigens hatten schon frühere Untersuchungen gezeigt, dass Kinder mit Autismus eine verminderte neuronale Reaktion auf die Stimme ihrer Mutter aufweisen.



    Literatur

    Abrams, D. A., Mistry, P. K., Baker, A. E., Padmanabhan, A. & Menon, V. (2022). A neurodevelopmental shift in reward circuitry from mother’s to nonfamilial voices in adolescence. The Journal of Neuroscience, 42(20), 4164–4173.


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