Die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, aus der Vielzahl sensorischer Eindrücke jene auszuwählen, die für das Überleben, Lernen und Handeln entscheidend sind, stellt eine grundlegende Voraussetzung für die Bildung von Erinnerungen dar. Eine Studie von Liao et al. (2024) am Mausmodell lieferte neue Einsichten in die neuronalen Mechanismen, die es dem Gehirn ermöglichen, während der Gedächtniskonsolidierung irrelevante Informationen zu filtern und bedeutungsvolle Muster zu bewahren. Im Zentrum dieser Forschung stand die hemmende Plastizität – eine lernabhängige Veränderung hemmender synaptischer Verbindungen –, die bisher kaum in Modellen der Gedächtnisbildung berücksichtigt wurde.
Man untersuchte deshalb, wie das Gehirn entscheidet, welche Inhalte während der Sharp-Wave-Ripples im Hippocampus, also jene kurzen Phasen hoher neuronaler Aktivität in Ruhe oder Schlaf, wiederholt und damit langfristig gespeichert werden. Zwar ist bekannt, dass während dieser Wiederholungen neuronale Aktivitätsmuster vergangener Erfahrungen reaktiviert werden, doch blieb bisher unklar, wie das Gehirn zwischen relevanten und störenden Reizen unterscheidet. Um diese Frage zu klären, kombinierte man in dieser Untersuchung mathematische und biologisch realistische Computermodelle mit optogenetischen Experimenten. Die Simulationsmodelle wurden mit Sequenzen trainiert, die sowohl stabile, räumlich relevante Muster als auch zufällige Ablenkungen enthielten. Entscheidend war dabei die Anwendung einer Hebb’schen Lernregel nicht nur auf exzitatorische, sondern auch auf hemmende Synapsen, denn diese Erweiterung erlaubte es dem Netzwerk, Neuronen, die auf unregelmäßige und nicht generalisierbare Reize ansprachen, gezielt zu unterdrücken. Dadurch entstanden strukturierte, wiedererkennbare Gedächtnisrepräsentationen, die durch rein exzitatorisches Lernen nicht möglich waren. Fehlt nämlich die hemmende Plastizität, dominieren laute, ungeordnete Wiederholungen – das neuronale „Rauschen“ überwältigt das eigentliche Signal.
Diese theoretischen Vorhersagen wurden durch gezielte Manipulationen im Mausgehirn bestätigt, wobei man Viren einführte, die bestimmte Neuronen im Hippocampus lichtempfindlich machten, und koppelte künstliche Reize mit der Aktivierung dieser Zellen, wodurch sie künstliche Ablenkungsneuronen erzeugten. Während der anschließenden Ruhephasen zeigte sich, dass diese Neuronen während der Gedächtniswiederholung gezielt unterdrückt wurden. Die Analyse ergab, dass sie verstärkte hemmende Signale erhielten, während sogenannte Ortszellen, die konsistente Umweltinformationen kodieren, weitgehend unbeeinträchtigt blieben. Die Ergebnisse belegen, dass das Gehirn also imstande ist, durch erfahrungsabhängiges Lernen irrelevante Informationen gezielt zu hemmen, um stabile, verallgemeinerbare Erinnerungen zu formen. Besonders bemerkenswert war dabei die Entdeckung, dass sich der Grad der Hemmung bei wiederholtem Auftreten derselben Ablenkung verstärkt – ein Lernprozess, der es dem Gehirn erlaubt, Störreize langfristig auszublenden. Dies weist auf eine Art neuronale Relevanzbewertung hin, d. h., nur Informationen, die über mehrere Erfahrungen hinweg konsistent bleiben, werden bevorzugt reaktiviert und in das Langzeitgedächtnis aufgenommen. Auf diese Weise unterstützt die hemmende Plastizität nicht nur die Effizienz des Gedächtnisprozesses, sondern schützt auch vor kognitiver Überlastung. Dies bietet auch eine mögliche Erklärung für Störungen der Gedächtniskonsolidierung bei neurologischen Erkrankungen, bei denen diese hemmenden Mechanismen beeinträchtigt sein könnten. Offenbar ist diese selektive Hemmung von Informationen ein aktiver und formbarer Prozess im Gehirn, der es ermöglicht, aus dem Strom der Eindrücke jene Muster zu extrahieren, die Bedeutung haben.
Literatur
Liao, Z., Terada, S., Raikov, I. G., Hadjiabadi, D., Szoboszlay, M., Soltesz, I., & Losonczy, A. (2024). Inhibitory plasticity supports replay generalization in the hippocampus. Nature Neuroscience, 27(10), 1987–1998.
Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Psychologen :::