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Die Dynamik der Erinnerung

    Eines der zentralen Rätsel der Neurowissenschaft ist die Frage, wie das Gehirn Erinnerungen speichert, verallgemeinert und aktualisiert. Lange Zeit war der Begriff des „Engramms“ eine eher theoretische Vorstellung, doch heute jedoch hat sich das Verständnis von Gedächtnisspuren dank moderner neurowissenschaftlicher Methoden zu einer greifbaren biologischen Realität gewandelt. Neue Studien und technologische Durchbrüche erlauben es, die neuronalen Grundlagen des Gedächtnisses auf molekularer, zellulärer und systemischer Ebene zu untersuchen. Teng, Chen und Chen (2025) haben nun die dynamische Entwicklung von Engrammen über verschiedene Phasen der Gedächtnisbildung hinweg analysiert.

    Engramme, also spezifische neuronale Ensembles, speichern Erinnerungen durch anhaltende biophysikalische und molekulare Veränderungen. Diese Neuronengruppen sind über verschiedene Hirnregionen verteilt und entstehen bevorzugt in Zellen mit erhöhter intrinsischer Erregbarkeit – ein Prozess, der stark durch den Transkriptionsfaktor CREB (cAMP response element-binding protein) gesteuert wird. CREB fördert die neuronale Erregbarkeit sowie die Bildung dendritischer Dornen und bereitet so bestimmte Zellen auf ihre Rolle als Gedächtnisspeicher vor. Die Ausbildung eines Engramms beginnt mit der Aktivierung sogenannter „immediate early genes“ (IEGs) wie Fos, Npas4, Arc und Egr1, welche die neuronale Aktivität während der Lernphase molekular markieren. In der anschließenden Konsolidierungsphase unterliegen die Zellen epigenetischen Veränderungen wie DNA-Methylierung, posttranslationalen Modifikationen von Histonen (z. B. Acetylierung und Phosphorylierung) sowie dem Austausch von Histonvarianten. Gleichzeitig werden die Synapsen durch die Rekrutierung von NMDA- und AMPA-Rezeptoren sowie Kir-Kanälen stabilisiert, während sich die Dichte dendritischer Spines erhöht. Diese strukturellen und funktionellen Modifikationen ermöglichen es, Erinnerungen langfristig zu speichern.

    Es zeigte sich dabei, dass Engramme sich im Laufe ihrer Reifung von einem „stillen“ Zustand hin zu einer funktional aktiven Konfiguration entwickeln. Dieser Übergang ermöglicht es, gespeicherte Informationen selektiv abzurufen und zu modifizieren. Neurowissenschaftler konnten durch Markierungs- und Manipulationstechniken – etwa durch Kombination von IEG-Markierung mit optogenetischer Steuerung – gezielt jene Neuronen identifizieren, die spezifische Erinnerungen kodieren. Sie sind sogar in der Lage, diese Zellen künstlich zu aktivieren und dadurch das Abrufen von Erinnerungen zu induzieren – auch ohne natürliche sensorische Reize.

    Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass nach der initialen Speicherung im Hippocampus ein Prozess der „Systemkonsolidierung“ stattfindet. Hierbei verlagert sich die Speicherung zunehmend in den medialen präfrontalen Kortex. Während hippocampale Engramme kontextspezifische Details enthalten, kodieren kortikale Netzwerke zunehmend schematischere und generalisierte Repräsentationen. Dieses Prinzip erklärt, warum Erinnerungen im Laufe der Zeit oft unspezifischer werden – ein Mechanismus, der das Lernen unterstützt, aber auch pathologische Züge annehmen kann. So etwa bei der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), bei der sich emotionale Angsterinnerungen übergeneralisieren. Der Hippocampus spielt eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung von Gedächtnisspezifität. Wird seine Funktion – etwa durch Stress – beeinträchtigt, kann dies zu unangemessenen Angstreaktionen auf eigentlich harmlose Reize führen. Die Forscher beschreiben in diesem Zusammenhang mehrere Mechanismen, darunter stressinduzierte Änderungen in den neuronalen Schaltkreisen des Hippocampus und der Amygdala, die zur maladaptiven Generalisierung beitragen können.

    Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Gedächtnisaktualisierung, denn reaktivierte Erinnerungen werden vorübergehend plastisch, sodass sie neue Informationen aufnehmen und sich dadurch verändern können. Dieser Prozess erlaubt es dem Organismus, bestehendes Wissen flexibel an neue Erfahrungen anzupassen. Im Falle emotionaler Erinnerungen birgt diese Plastizität auch therapeutisches Potenzial: Wenn sich die Valenz – also der emotionale Gehalt – eines Engramms im Gyrus dentatus des Hippocampus umkehren lässt, könnte dies Möglichkeiten zur gezielten Behandlung emotional belastender Erinnerungen eröffnen.

    Trotz all dieser Fortschritte bleiben viele Fragen offen. Wie beeinflussen nukleäre Prozesse die spezifische synaptische Verstärkung innerhalb von Engrammen? Welche Signale bestimmen, wann ein Neuron Teil eines Engramm-Netzwerks wird – oder dieses wieder verlässt? Und wie gelingt dem Gehirn das empfindliche Gleichgewicht zwischen Stabilität und Flexibilität des Gedächtnisses über lange Zeiträume hinweg?

    Die Untersuchung dynamischer Engramme eröffnet nicht nur ein tieferes Verständnis der biologischen Basis des Gedächtnisses, sondern liefert auch wertvolle Hinweise für zukünftige Therapien bei Gedächtnisstörungen, PTBS und Angststörungen. Die Möglichkeit, Gedächtnisspuren gezielt zu modifizieren, ohne sie zu löschen, könnte neue Wege für personalisierte neuropsychologische Interventionen eröffnen – ein Forschungsfeld mit großem klinischem Potenzial.



    Literatur

    Teng, S., Chen, X. & Chen, Z. (2025). Dynamic memory engrams: Unveiling the cellular mechanisms of memory encoding, consolidation, generalization, and updating in the brain. Brain Medicine. Advance online publication. https://www.doi.org/10.61373/bm025i.0044


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