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Bewusstseinstheorien auf dem Prüfstand

    Was ist Bewusstsein? Diese uralte Frage steht im Zentrum intensiver wissenschaftlicher Bemühungen, bei denen sich Neurowissenschaft, Philosophie und Kognitionsforschung treffen. Besonders relevant ist dabei die Frage, wie subjektive Erfahrungen – wie der Geschmack von Kaffee oder das Erleben von Schmerz – aus bloßer neuronaler Aktivität entstehen. In einem bemerkenswerten Schritt zur Beantwortung dieser Frage haben sich internationale Wissenschaftler:innen unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) zusammengefunden, um die beiden derzeit prominentesten Theorien des Bewusstseins – die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT) und die Integrated Information Theory (IIT) – direkt miteinander zu vergleichen (Ferrante et al., 2025). Ziel war es, nicht nur empirische Evidenz zu generieren, sondern auch einen neuen, rigorosen methodischen Standard für die Untersuchung solcher komplexen Phänomene zu setzen.

    Die GNWT geht davon aus, dass Bewusstsein entsteht, wenn Informationen breitflächig im Gehirn verbreitet und integriert werden – insbesondere über präfrontale und parietale Regionen. Demgegenüber lokalisiert die IIT das Bewusstsein im posterioren Kortex, wo Informationen stark miteinander verknüpft sind. Trotz ihrer Gemeinsamkeit, das Phänomen der bewussten Wahrnehmung erklären zu wollen, liefern beide Theorien radikal unterschiedliche Antworten auf die Frage, wo und wie Bewusstsein entsteht.

    Das Cogitate-Konsortium entschied sich für einen kollaborativen, theorieübergreifenden Forschungsansatz. Anstatt konkurrierende Positionen isoliert zu testen, arbeiteten Befürworter und Befürworterinnen beider Theorien gemeinsam an einer streng geplanten, vorab registrierten Studie, deren experimentelles Design, Hypothesen und Auswertungsstrategien im Vorfeld eindeutig festgelegt wurden. Dies entspricht dem Prinzip der „adversarial collaboration“, einem von Daniel Kahneman propagierten Ansatz, der wissenschaftliche Objektivität fördern soll. In sieben Laboren weltweit nahmen 256 Proband:innen an Experimenten teil, bei denen mithilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI), Magnetenzephalographie (MEG) und intrakraniellem EEG (iEEG) neuronale Daten erhoben wurden. Die Wissenschaftler:innen verpflichteten sich im Vorfeld, die Ergebnisse unabhängig vom Ausgang zu akzeptieren – ein klares Bekenntnis zur wissenschaftlichen Integrität und Offenheit.

    Die Resultate der Studie fordern zentrale Annahmen beider Theorien heraus. Im Fall der IIT konnte keine anhaltende Synchronisation in den hinteren Hirnregionen beobachtet werden – ein zentrales Merkmal dieser Theorie. Zwar fanden sich im Sinne der GNWT einige bewusste Informationen im präfrontalen Cortex, doch das erwartete „Ignitionsmuster“ blieb aus. Zudem war die Darstellung bestimmter bewusster Inhalte im präfrontalen Bereich limitiert. Insgesamt lassen sich einzelne Vorhersagen beider Modelle durch die Daten zwar stützen, doch viele ihrer grundlegenden Annahmen konnten nicht bestätigt werden. Dies legt nahe, dass keine der beiden Theorien den Mechanismus des Bewusstseins vollständig erklären kann (Ferrante et al., 2025).

    Diese Ergebnisse sind nicht nur ein Rückschlag für die beiden untersuchten Modelle, sondern auch ein Aufruf an die gesamte Wissenschaftsgemeinschaft, etablierte Konzepte nicht unkritisch zu übernehmen. „Wenn wir das Bewusstsein wirklich verstehen wollen, dürfen wir uns nur von den Daten leiten lassen“, betont Lucia Melloni, eine der Hauptautorinnen der Studie. Das Cogitate-Team plant bereits ein weiteres groß angelegtes Experiment zur Fortführung der vergleichenden Forschung. Gleichzeitig wurde der vollständige Datensatz öffentlich zugänglich gemacht, um anderen Forscher:innen die Möglichkeit zu geben, alternative Theorien zu testen oder neue Ansätze zu entwickeln.

    Der Ansatz dieser Studie stellt ein wegweisendes Modell für die künftige kognitive Neurowissenschaft dar. Indem konkurrierende Theorien gemeinsam geprüft werden, steigt die methodische Qualität, und der Weg wird frei für einen integrativen, datenbasierten Fortschritt in der Bewusstseinsforschung. Anstatt um Deutungshoheit zu kämpfen, rückt das gemeinsame Ziel in den Fokus: das tiefere Verständnis eines der größten Rätsel der Menschheit – des Bewusstseins.



    Literatur

    Ferrante, O., Gorska-Klimowska, U., Henin, S., Hirschhorn, R., Khalaf, A., Lepauvre, A., Liu, L., Richter, D., Vidal, Y., Bonacchi, N., Brown, T., Sripad, P., Armendariz, M., Bendtz, K., Ghafari, T., Hetenyi, D., Jeschke, J., Kozma, C., Mazumder, D. R., Montenegro, S., Seedat, A., Sharafeldin, A., Yang, S., Baillet, S., Chalmers, D. J., Cichy, R. M., Fallon, F., Panagiotaropoulos, T. I., Blumenfeld, H., de Lange, F. P., Devore, S., Jensen, O., Kreiman, G., Luo, H., Boly, M., Dehaene, S., Koch, C., Tononi, G., Pitts, M., Mudrik, L., Melloni, L., & Cogitate Consortium. (2025). Adversarial testing of global neuronal workspace and integrated information theories of consciousness. Nature, doi:10.1038/s41586-025-08888-1


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