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Küssen in der Evolution: Verhaltensspuren von Menschenaffen bis zum modernen Menschen

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    Aktuelle evolutionsbiologische Forschung legt nahe, dass das Küssen als Form des nicht-aggressiven Mundkontakts eine weit ältere Geschichte besitzt, als bislang angenommen. Ein Team der Universität Oxford entwickelte ein statistisches Modell, das verschiedene Datenstränge vereint: mikrobielle Analysen fossiler Funde, genetische Befunde sowie Verhaltensbeobachtungen lebender Primaten. Auf dieser Grundlage zeigt sich, dass bereits die frühen Vorfahren heutiger Menschenaffen – und damit auch die Vorfahren des Menschen – vor rund 20 Millionen Jahren Formen des Küssens praktizierten (Brindle, Talbot & West, 2025).

    Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Feststellung, dass Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans regelmäßig nicht-aggressiven Mund-zu-Mund-Kontakt zeigen. Diese Beobachtungen wurden systematisch erfasst, phylogenetisch eingeordnet und statistisch ausgewertet. Das Modell wurde millionenfach durchgerechnet, wodurch sich eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür ergab, dass frühere Menschenaffen und auch Neandertaler solche Formen des Kontakts nutzten. Besonders bemerkenswert erscheint, dass die Analyse auch genetische und mikrobiologische Hinweise auf Austauschprozesse berücksichtigt: Der Transfer oraler Mikroben und der genetische Austausch zwischen Neandertalern und frühen Homo-sapiens-Populationen sprechen dafür, dass körperliche Nähe – einschließlich Küssen – ein regulärer Bestandteil ihrer sozialen Interaktion war.

    Die Forschenden betonen, dass Küssen evolutionär nicht zwingend auf sexuelle Motivation reduziert werden kann. Bei Menschenaffen tritt es oft im Kontext sozialer Bindung auf, etwa beim Abschluss gegenseitiger Fellpflege. Der Kontakt dient offenbar der Stabilisierung von Beziehungen und der Herstellung von Nähe. Die Frage, ob Küssen eine kulturelle Erfindung oder ein angeborenes Verhalten ist, wird dadurch neu beleuchtet: Obwohl nur etwa die Hälfte aller menschlichen Kulturen küssende Rituale dokumentiert, sprechen die rekonstruierten Verhaltenspfade dafür, dass das Verhalten tief in der Primaten-Evolution verankert ist.

    Zusätzliche Erkenntnisse über die Funktion des Küssens liefert eine weiter zurückliegende Studie von Kort et al. (2014). Diese Untersuchung konnte zeigen, dass sich das orale Mikrobiom von Paaren im Laufe der Zeit angleicht – insbesondere durch häufigen und intensiven Kusskontakt. Der Austausch von Mikroorganismen kann dabei immunologische Vorteile mit sich bringen und das Gleichgewicht der Mundflora positiv beeinflussen.

    Insgesamt entsteht das Bild eines komplexen Verhaltens, das biologische, soziale und möglicherweise gesundheitliche Dimensionen miteinander verknüpft. Küssen erscheint in dieser Perspektive weniger als romantisches oder kulturell festgelegtes Ritual, sondern vielmehr als evolutionäres Erbe, das bei großen Menschenaffen entstand, von Neandertalern fortgeführt und von modernen Menschen in einer Vielzahl kultureller Formen weitergelebt wurde.

    Literatur

    Brindle, M., Talbot, C. F., & West, S. (2025). A comparative approach to the evolution of kissing. Evolution and Human Behavior, do:10.1016/j.evolhumbehav.2025.106788
    Kort, R., Caspers, M., van de Graaf, A., van Egmond, W., Keijser, B., & Roeselers, G. (2014). Shaping the oral microbiota through intimate kissing. Microbiome, 2(1), 41.

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