Schlaf gehört zu den elementarsten biologischen Prozessen und ist dennoch von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. Wie genau das Gehirn den Übergang vom Wachzustand in den Schlaf organisiert, galt lange als ein gleitender, gradueller Vorgang. Neue Forschungsergebnisse zeichnen jedoch ein anderes, deutlich präziseres Bild. Li et al. /2025) konnten zeigen, dass das Einschlafen kein sanftes Hinübergleiten ist, sondern ein abruptes Umschalten – ein zweistufiger Prozess, der sich in den elektroenzephalographischen Signaturen des Gehirns klar abbildet. Das Bild rückt den Prozess des Einschlafens weg von der Vorstellung eines gleitenden Übergangs hin zu einem klaren, biologisch markierten Ereignis. Der Schlaf, dessen Bedeutung für Gesundheit, Gedächtnis und Wohlbefinden unbestritten ist, beginnt demnach nicht langsam, sondern mit einem plötzlichen, unzweideutigen Signal des Gehirns.
Die Grundlage dieser Erkenntnisse bilden EEG-Daten von mehr als tausend Probandinnen und Probanden, die während einer Nacht mit Elektroden ausgestattet waren. Bei der Analyse fand man einen klar definierten Wendepunkt im Gehirn: Rund viereinhalb Minuten bevor Menschen subjektiv einschlafen, verändern sich die elektrischen Muster abrupt. Die zuvor allmählich wirkenden Fluktuationen verdichten sich zu einem sprunghaften Dynamikwechsel, den die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Bifurkation bezeichnen. Dieses Konzept beschreibt ein Systemsprunghaftes Umschalten – ähnlich dem Moment, in dem ein gebogener Stock plötzlich bricht. Der Befund untermauert damit auch alltägliche Beobachtungen: Wer einschläft, verliert oft von einer Sekunde auf die nächste das Gefühl für die Außenwelt; dieser Verlust ist physiologisch ebenso abrupt wie subjektiv.
Auf dieser Grundlage entwickelten die Forschenden ein neues Analyseverfahren, das 47 Merkmale der Gehirnaktivität in einem mehrdimensionalen Raum abbildet und so Bewegungen des Gehirns vom Wachzustand bis zur Schlafphase sichtbar macht. Überraschend ist, dass eine einzelne Messung genügte, um den Einschlafzeitpunkt einer Person für weitere Nächte mit einer Genauigkeit von 95 Prozent sowie einer Toleranz von lediglich 49 Sekunden vorherzusagen (Li et al., 2025). Damit wird das Einschlafen nicht nur nachvollziehbar, sondern in gewissem Maße auch vorhersagbar.
Diese Erkenntnisse verändern das wissenschaftliche Verständnis des Schlafbeginns grundlegend, denn der identifizierte Kipppunkt vollzieht sich nicht nur deutlich früher, als bisher angenommen wurde, sondern besitzt auch diagnostisches Potenzial. So könnten die beschriebenen dynamischen Muster künftig helfen, Schlafstörungen objektiver zu erfassen oder Störungen der Gehirnfunktion im Zusammenhang mit Alterungsprozessen und neurodegenerativen Erkrankungen früher zu erkennen. Auch für operative Eingriffe, bei denen die Überwachung der Anästhesie von zentraler Bedeutung ist, eröffnen sich neue Anwendungsmöglichkeiten.
Literatur
Li, J., Ilina, A., Peach, R., Wei, T., Rhodes, E., Jaramillo, V., Violante, I. R., Barahona, M., Dijk, D.-J., & Grossman, N. (2025). Falling asleep follows a predictable bifurcation dynamic. Nature Neuroscience, doi:10.1038/s41593-025-02091-1
Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Psychologen :::