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Das verkörperte Selbst: Wie die Wahrnehmung des eigenen Kindergesichts vergessene Erinnerungen weckt

    Die Fähigkeit, sich an Erlebnisse aus der frühen Kindheit zu erinnern, ist bis heute ein faszinierendes Rätsel der Kognitionswissenschaft. Während manche Szenen aus den ersten Lebensjahren lebendig vor dem inneren Auge erscheinen, scheinen andere unwiederbringlich verloren. Eine aktuelle Studie von Gupta et al. (2025) zeigte nun, dass nicht allein die Gedächtnisstruktur bestimmt, was abrufbar ist, sondern auch die Art und Weise, wie wir unseren Körper – und damit uns selbst – wahrnehmen. Das sogenannte Körperselbst kann als Schlüssel fungieren, der Zugänge zu lange verschütteten Erinnerungen öffnet .

    An dem Experiment nahmen 50 gesunde Erwachsene an einer Online-Studie teil. Dabei sahen sie ihr eigenes Gesicht in Echtzeit auf einem Bildschirm – entweder unverändert oder digital verjüngt, sodass es ihrem kindlichen Ich ähnelte. Durch synchronisierte Kopfbewegungen entstand eine überzeugende Illusion, das kindliche Gesicht tatsächlich zu „besitzen“. Anschließend beantworteten die Teilnehmenden Fragen zu autobiografischen Erinnerungen. Das Ergebnis war deutlich: Wer zuvor die kindliche Version des eigenen Gesichts gesehen und verkörpert hatte, erinnerte sich an signifikant mehr szenische, also episodische Details aus der Kindheit. Faktenwissen – die sogenannten semantischen Anteile – blieb davon unberührt. Auch aktuelle Erinnerungen wurden nicht beeinflusst, was darauf hindeutet, dass der Effekt gezielt auf frühe, sonst schwer zugängliche Lebensphasen wirkt.

    Man vermutet nun, dass Erinnerungen nicht nur aus gespeicherten Daten bestehen, sondern stets im Zusammenspiel mit körpernahen Hinweisen abgerufen werden. Das Gehirn verknüpft während eines Ereignisses die Wahrnehmung des eigenen Körpers mit den begleitenden Eindrücken – Haltungen, Perspektiven oder Gesichter können so zu einem Teil der Erinnerungsspur werden. Wenn diese körperlichen Signale später erneut aktiviert werden, etwa durch das Betrachten eines kindlichen Selbstbildes, kann dies das Wiedererleben unterstützen. Diese Beobachtung deckt sich mit der Theorie des Embodiment, wonach kognitive Prozesse eng mit körperlichen Erfahrungen verwoben sind.

    Interessanterweise zeigte die Studie, dass die Präzision der visuomotorischen Synchronisation – also ob die Kopfbewegungen des Teilnehmers exakt mit denen des Gesichts auf dem Bildschirm übereinstimmten – zwar das Gefühl der Kontrolle über das angezeigte Gesicht verstärkte, den Erinnerungseffekt jedoch nicht veränderte. Dies lässt darauf schließen, dass sowohl die Illusion der Verkörperung als auch einfaches Priming durch das kindliche Selbstbild zum verbesserten Erinnern beitragen könnten.

    Dennoch sollten diese Forschungsergebnisse mit Vorsicht betrachtet werden, denn das Experiment wurde online durchgeführt, die digitale Kinderversion basierte auf Standardfiltern und die Genauigkeit der erinnerten Szenen wurde nicht überprüft. Es ist also denkbar, dass auch verfälschte Details darunter waren. Dennoch verdeutlicht die Arbeit, dass körpernahe Reize – etwa Fotos, Gerüche oder Bewegungsmuster – Erinnerungsprozesse beleben können. Therapeutisch könnten solche Ansätze künftig helfen, positive biografische Erfahrungen zugänglicher zu machen oder autobiografische Erinnerungsdefizite abzumildern.

    Erinnern ist demnach kein rein mentales Abrufen gespeicherter Daten ist, sondern ein rekonstruktiver Prozess, der tief im Erleben des eigenen Körpers verwurzelt ist. Das Selbstbild fungiert dabei als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart – und das kindliche Ich kann zu einem überraschend wirksamen Schlüssel für das Tor zur Erinnerung werden.

    Literatur

    Gupta, U., Bright, P., Clarke, A., Zafar, W., Recarte-Perez, P., & Aspell, J. E. (2025). Illusory ownership of one’s younger face facilitates access to childhood episodic autobiographical memories. Scientific Reports, 15(1), 32564.

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