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Emotionen als Gedächtnisverstärker: Neue Erkenntnisse zur Priorisierung alltäglicher Erinnerungen

    Nicht alle Erlebnisse hinterlassen die gleiche Spur im Gedächtnis. Während manche Erinnerungen noch nach Jahren lebendig und detailreich erscheinen, verblassen andere schnell. Lin et al. (2025) gingen der Frage nach, weshalb unser Gehirn manche Eindrücke dauerhaft speichert, während andere verloren gehen. Die zentrale Erkenntnis: Alltägliche Ereignisse werden besonders dann im Gedächtnis verankert, wenn sie mit emotionalen Erfahrungen, Überraschungen oder Belohnungen verknüpft sind.

    In zehn Einzelstudien mit insgesamt 648 Teilnehmenden untersuchte man diesen Mechanismus experimentell. Die Versuchspersonen sahen beispielsweise Bilder, die mit verschiedenen Belohnungen kombiniert wurden, und wurden am darauffolgenden Tag überraschend zu ihren Erinnerungen getestet. Die Ergebnisse zeigten, dass das Gehirn keinen simplen Ja-Nein-Entscheidungsprozess bei der Speicherung anwendet, sondern einen graduellen Bewertungsmechanismus: Erinnerungen werden gewichtet, abgestuft priorisiert und je nach emotionalem oder situativem Kontext unterschiedlich stark gefestigt. Besonders prägend sind Erlebnisse, die in engem zeitlichem Zusammenhang mit bedeutenden Ereignissen stehen. Interessanterweise betrifft dieser Verstärkungseffekt vor allem Erinnerungen, die nach einem emotional aufgeladenen Moment auftreten. Eindrücke, die diesem vorausgingen, bleiben hingegen nur dann besser erhalten, wenn sie inhaltliche oder visuelle Gemeinsamkeiten mit dem Schlüsselerlebnis teilen.

    Damit liefert die Studie die erste Bestätigung eines abgestuften Priorisierungsprinzips beim Menschen. Emotionale Schlüsselerlebnisse wirken wie ein Verstärker, der schwächere Erinnerungen nachträglich stärkt – allerdings nicht willkürlich, sondern bevorzugt solche, die semantische oder visuelle Verknüpfungen aufweisen. Dieser Mechanismus könnte auch erklären, weshalb Nostalgie ein so wirkungsvolles Mittel ist, denn sie aktiviert emotionale Netzwerke und verleiht ansonsten unscheinbaren Erlebnissen Bedeutung.

    Langfristig eröffnet das Verständnis dieser Prozesse neue Perspektiven für die kognitive Neurowissenschaft und klinische Anwendungen. Insbesondere für Therapien bei Gedächtnisstörungen könnte es hilfreich sein, gezielt Strategien zu entwickeln, um nützliche Erinnerungen zu stabilisieren und belastende Erinnerungen zu schwächen. Noch sind jedoch weitere Studien erforderlich, um diese Erkenntnisse in praktische Anwendungen zu überführen.

    Literatur

    Lin, C., Wen, W., Cheng, P., Schallies, S., Grover, S., & Reinhart, R. M. G. (2025). Salient experiences enhance mundane memories through graded prioritization. Science Advances, 11(39), doi:10.1126/sciadv.ady1704

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