Es kommt nicht darauf an, was euch passiert, sondern wie ihr darauf reagiert.
Epiktet
Die Suche nach Gelassenheit ist eine der zentralen Bestrebungen des modernen Menschen. In einer Zeit permanenter Reizüberflutung, emotionaler Überforderung und zunehmender Unsicherheit erscheint der stoische Weg zur inneren Ruhe aktueller denn je. Die stoische Philosophie, deren Hauptvertreter Seneca, Epiktet und Mark Aurel sind, bietet einen erprobten, psychologisch anschlussfähigen Weg zu mehr Resilienz, emotionaler Selbststeuerung und Akzeptanz. Dabei geht es nicht um Gleichgültigkeit, sondern um eine tiefe, geistige Haltung: Die Einsicht in die Unterscheidung zwischen dem, was in unserer Kontrolle liegt, und dem, was außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten steht (Epiktet, ca. 135/1995).
Zentrale stoische Leitsätze wie „Nicht die Dinge selbst beunruhigen den Menschen, sondern seine Meinung über die Dinge“ (Epiktet, ca. 135/1995, S. 13) lassen sich heute mit kognitiven Modellen aus der Psychologie in Verbindung bringen. Besonders die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) nimmt stoische Annahmen implizit auf, indem sie den Fokus auf die Bewertung von Ereignissen legt. So betont etwa Becks Modell der Depression, dass es nicht die äußeren Lebensumstände sind, die zu psychischem Leiden führen, sondern dysfunktionale Denkstile und überzogene Erwartungen (Beck, 1979). Die Parallele zur stoischen Maxime ist offensichtlich: Gelassenheit erwächst aus der bewussten Veränderung der inneren Haltung gegenüber Unabänderlichem.
Ein klassisches Beispiel für stoische Gelassenheit findet sich in den „Selbstbetrachtungen“ von Mark Aurel (ca. 180/2009). Als römischer Kaiser und Feldherr war er mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, von politischen Intrigen bis zu persönlichen Verlusten. Dennoch hielt er in seinem Tagebuch an der Überzeugung fest, dass kein äußeres Ereignis seine Seelenruhe stören könne – außer er lasse es zu. Diese geistige Autonomie bildet das Fundament der stoischen Ethik. Heute würde man sagen: Gelassenheit ist weniger eine Eigenschaft als eine trainierbare Kompetenz, vergleichbar mit der Fähigkeit zur Emotionsregulation, wie sie in der Achtsamkeitspraxis oder der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) geübt wird (Hayes, Strosahl & Wilson, 1999).
Ein konkretes Beispiel aus dem Alltag könnte die Reaktion auf Kritik darstellen. Während viele Menschen reflexhaft mit Kränkung oder Abwehr reagieren, würde ein Stoiker zunächst prüfen, ob die Kritik berechtigt ist. Ist sie es, kann sie zur Verbesserung genutzt werden; ist sie es nicht, braucht sie ihn nicht zu stören, da sie nichts an seinem inneren Wert verändert. Diese Form der Selbstprüfung erinnert stark an metakognitive Strategien, wie sie auch in der Emotionsforschung beschrieben werden (Gross, 1998). Gelassenheit bedeutet hier nicht Passivität, sondern ein reflektiertes Innehalten vor der Reaktion – eine Form kognitiver Freiheit.
Psychologisch lässt sich Gelassenheit auch mit dem Konzept der „psychologischen Flexibilität“ in Verbindung bringen – der Fähigkeit, unangenehme Gedanken und Gefühle zu akzeptieren, ohne sich von ihnen überwältigen zu lassen, und gleichzeitig wertegeleitet zu handeln (Kashdan & Rottenberg, 2010). Stoische Übungen wie das tägliche Nachdenken über die eigene Sterblichkeit („memento mori“) oder die Vorstellung des Schlimmsten („premeditatio malorum“) fördern genau diese Resilienz. Sie helfen, die Unvermeidlichkeit von Verlust und Wandel zu akzeptieren und im Jetzt zu leben, ohne von Angst beherrscht zu werden.
Die stoische Gelassenheit beruht letztlich auf einer tiefgreifenden kognitiven Umstrukturierung, die in vielen modernen psychotherapeutischen Ansätzen widerhallt. Wer sich darin übt, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was er selbst beeinflussen kann – und das Übrige in Würde loszulassen –, entwickelt nicht nur philosophische Klarheit, sondern auch psychische Stärke. In einer Welt, die durch ständige Veränderung und Unsicherheit geprägt ist, erscheint die stoische Haltung nicht als Rückzug, sondern als bewusste Form des Widerstands gegen die Tyrannei äußerer Umstände. Gelassenheit wird so zur Übung der Freiheit – im Denken, Fühlen und Handeln.
Literatur
Beck, A. T. (1979). Cognitive therapy and the emotional disorders. Penguin.
Epiktet. (1995). Handbüchlein der Moral (A. Schmitt, Übers.). Reclam. (Originalarbeit ca. 135 n. Chr.)
Gross, J. J. (1998). The emerging field of emotion regulation: An integrative review. Review of General Psychology, 2(3), 271–299.
Hayes, S. C., Strosahl, K. D., & Wilson, K. G. (1999). Acceptance and Commitment Therapy: An experiential approach to behavior change. Guilford Press.
Kashdan, T. B., & Rottenberg, J. (2010). Psychological flexibility as a fundamental aspect of health. Clinical Psychology Review, 30(7), 865–878.
Mark Aurel. (2009). Selbstbetrachtungen (W. Schadewaldt, Übers.). Reclam. (Originalarbeit ca. 180 n. Chr.)
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