In der psychologischen Forschung ist seit langem bekannt, dass die frühe Bindung zwischen Kindern und ihren primären Bezugspersonen maßgeblich die soziale, emotionale und psychische Entwicklung eines Menschen beeinflusst. Der Bindungstheorie zufolge entwickeln Kinder unterschiedliche Bindungstypen, die sich in drei Hauptformen gliedern lassen: sichere, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindungen – wobei letztere als „organisierte“ Bindungen gelten, da sie adaptive Bewältigungsstrategien darstellen. Zusätzlich existiert der Bindungstyp der desorganisierten Bindung, der typischerweise auf traumatische oder widersprüchliche Erfahrungen mit Bezugspersonen zurückgeführt wird und als maladaptiv gilt. In einer Langzeitstudie von Rolland et al. (2025) wurden über vier Jahre hinweg insgesamt 50 junge Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste beobachtet. Anhand von über 3.700 Stunden fokaler Verhaltensbeobachtung analysierte man die Beziehung der Jungtiere zu ihren Müttern, wobei sich zeigte, dass die Schimpansen entweder sichere oder unsicher-vermeidende Bindungen zeigten , also Verhaltensmuster, die auch aus der menschlichen Entwicklungspsychologie bekannt sind. Während sicher gebundene Jungtiere in bedrohlichen Situationen Nähe zu ihrer Mutter suchten und in sicheren Kontexten exploratives Verhalten zeigten, verhielten sich unsicher-vermeidend gebundene Tiere unabhängiger und suchten weniger aktiv die Nähe ihrer Mutter.
Bemerkenswert war jedoch das völlige Fehlen von Anzeichen einer desorganisierten Bindung, denn während bei menschlichen Kindern rund ein Viertel eine desorganisierte Bindung aufweisen – oftmals bedingt durch Missbrauch, Vernachlässigung oder inkonsistente Betreuung –, und sogar 61 % der in menschlicher Obhut aufgezogenen Schimpansenwaisen diesem Muster entsprechen, fand sich dieses Bindungsverhalten bei den freilebenden Schimpansen nicht. Diese Beobachtung legt nahe, dass desorganisierte Bindungen möglicherweise ein Artefakt von unnatürlichen oder sozial belasteten Aufwachsbedingungen sind und in der Wildnis keine überlebensfähige Strategie darstellen. Dass freilebende Schimpansen ausschließlich organisierte Bindungen zeigen, deutet darauf hin, dass diese Formen von Bindung tief in der Primatenevolution verwurzelt und anpassungsfähig sind, während die desorganisierte Bindung hingegen ein Zeichen sozialer Dysregulation sein könnte, das vor allem unter künstlichen oder belastenden Bedingungen auftritt. In diesem Licht stellt sich die Frage, ob moderne menschliche Erziehungspraktiken und institutionelle Strukturen – etwa in Heimen oder überforderten Betreuungssystemen – möglicherweise Bedingungen erzeugen, die zur Entstehung maladaptiver Bindungsmuster beitragen, sodass die Ergebnisse auch Anlass geben, die Qualität und Natur menschlicher Betreuungspraktiken kritisch zu hinterfragen. Das Fehlen desorganisierter Bindungen in der Wildnis stärkt die Annahme, dass stabile soziale Umwelten – wie sie bei wildlebenden Schimpansen vorherrschen – essenziell für eine gesunde soziale Entwicklung sind. Die Parallelen zwischen Schimpansen und Menschen im Bereich organisierter Bindungen verdeutlichen jedoch, dass adaptive Strategien der Mutter-Kind-Beziehung möglicherweise ein gemeinsames evolutionäres Erbe darstellen. Gleichzeitig machen die Unterschiede – insbesondere das Fehlen der desorganisierten Bindung in der Wildnis – deutlich, wie stark das soziale Umfeld das Aufwachsen und die emotionale Entwicklung beeinflusst.
Literatur
Rolland, E., Nodé-Langlois, O., Tkaczynski, P. J., Girard-Buttoz, C., Rayson, H., Crockford, C. & Wittig, R. M. (2025). Evidence of organized but not disorganized attachment in wild Western chimpanzee offspring (Pan troglodytes verus). Nature Human Behaviour, do:10.1038/s41562-025-02176-8
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