Seit der Digitalisierung häufen sich im Laufe eines Lebens unüberschaubar viele autobiografische Daten an – Fotos, Videos, Postings, Chats. Die zunehmende Ansammlung digitaler Daten verändert sowohl die Art und Weise, wie wir Erinnerungen speichern, als auch, wie wir uns an unsere Vergangenheit erinnern. Diese Entwicklung hat weitreichende Auswirkungen auf das menschliche Gedächtnis und die Selbstwahrnehmung. Es gibt mehrere Aspekte, die dabei eine Rolle spielen:
Durch die Digitalisierung können wir viele Erinnerungen in Form von Fotos, Videos und Texten speichern und jederzeit darauf zugreifen. Dies hat eine externale Entlastung des Gedächtnisses zur Folge, weil wir uns weniger auf die Speicherung von Details im Gehirn verlassen müssen. Viele Menschen greifen in alltäglichen Situationen auf digitale Erinnerungsquellen zurück, sei es durch Fotos auf dem Smartphone oder durch Chats, um sich an Ereignisse, Details oder Gespräche zu erinnern. Da Erinnerungen digital gespeichert werden, muss das Gehirn nicht mehr alle Informationen aktiv behalten. Dies könnte zu einer Verringerung der Gedächtnisleistung für bestimmte Details führen, während wichtige, emotionale oder bedeutende Ereignisse stärker im Gedächtnis haften bleiben. Menschen neigen dazu, sich weniger auf eigene Erlebnisse zu stützen und mehr auf externe Medien (z. B. Fotos und Videos), um sich an Details zu erinnern. Das Gedächtnis könnte also in gewisser Weise „passiver“ werden, da es weniger gefordert ist, selbstständig Informationen zu speichern.
Digitale Erinnerungen sind nicht nur leichter zugänglich, sie sind auch überall und jederzeit verfügbar, was zu einer Veränderung der Art und Weise führt, wie wir Erinnerungen bewahren und weitergeben. Die Plattformen und Technologien, auf denen diese Erinnerungen gespeichert sind (wie soziale Netzwerke oder Cloud-Dienste), beeinflussen, wie wir unsere eigene Vergangenheit sehen und darstellen. Viele Menschen gestalten ihre digitale Präsenz bewusst und wählen aus, welche Erinnerungen sie teilen wollen, was zu einer idealisierten oder gefilterten Darstellung ihrer Vergangenheit führen kann. Diese Auswahl beeinflusst, wie wir uns selbst sehen und welche Teile unserer Vergangenheit uns am stärksten im Gedächtnis bleiben. Digitale Erinnerungen haben dabei die Tendenz, die „Lebendigkeit“ des Erlebten zu reduzieren. Ein Foto von einem Urlaub kann die Erinnerung auslösen, aber es kann auch das Gefühl der tatsächlichen Erfahrung im Gedächtnis ersetzen, sodass sich der Mensch weniger „selbst“ in der Erinnerung fühlt und eher das Bild oder das Video als Erinnerung wahrnimmt.
Erinnern geht jetzt anders!
Das digitale Gedächtnis kann auch die Art der Erinnerung selbst verändern. Traditionell ist das menschliche Gedächtnis von aktiver Rekonstruktion geprägt – wenn wir uns an etwas erinnern, holen wir uns Fragmente ins Gedächtnis, die mit der Zeit verändert werden können. Digitale Medien hingegen können eine viel direktere Form der Erinnerung bieten. Da wir mit der Technologie jederzeit auf Ereignisse zugreifen können, könnte die Notwendigkeit, diese selbst zu rekonstruieren, verringert werden. Digitale Medien bieten einen festen „Schritt zurück“ in die Vergangenheit, wodurch der Prozess der aktiven Erinnerung (und damit auch der Kreativität des Gedächtnisses) verändert wird. Durch die Fülle an Daten und Erinnerungen kann es zu einer Verzerrung der Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit kommen. Manche Menschen erleben die Erinnerung an Ereignisse vielleicht als intensiver oder anders, weil sie durch die Vielzahl an gespeicherten Bildern oder Videos beeinflusst werden. Zudem kann die schiere Menge an Erinnerungen auch dazu führen, dass das Gedächtnis überflutet wird und es schwieriger wird, spezifische Erinnerungen klar zu differenzieren.
Digitale Erinnerungen können auch zu einer verstärkten Nostalgie führen. Soziale Medien und andere digitale Plattformen zeigen regelmäßig „Erinnerungen“ an vergangene Ereignisse (z. B. durch „Facebook Memories“ oder „Timehop“), was den Rückblick auf bestimmte Momente verstärken und diese mit einer emotionalen Aufladung versehen kann. Dies hat zur Folge, dass der Blick auf die Vergangenheit oft nostalgischer wird. Das Abrufen von Erinnerungen wird nicht nur durch die Bilder und Videos angestoßen, sondern auch durch die emotionale Bedeutung, die diese digitalen Erinnerungen für den Nutzer haben. Dies kann ein Gefühl der kontinuierlichen Identität fördern, aber auch zu einer Form von „verblasster“ Erinnerung führen, bei der das Gefühl des Erlebens von der Realität des Erlebten abweicht.
Die Digitalisierung verändert zweifellos unser Gedächtnis, indem sie unsere Erinnerungen verlagerter, selektiver und oft auch „einfacher zugänglich“ macht. Während das menschliche Gedächtnis in der Vergangenheit von aktiver Rekonstruktion geprägt war, bietet die digitale Welt eine „neue Form der Erinnerung“, die oft weniger auswendig und mehr im „Externer Speicher“ (Fotos, Videos, Apps) verankert ist. Dies könnte die Art und Weise verändern, wie wir uns selbst und unsere Vergangenheit wahrnehmen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.
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