Unser Gedächtnis ist weniger zuverlässig als wir denken – und überraschende Anblicke oder Erlebnisse tragen dazu bei, unser Gedächtnis zu manipulieren, wie ein Experiment jetzt gezeigt hat. Wenn Versuchspersonen ein Video sahen, das abrupt durch etwas anderes unterbrochen wurde, war ihre Erinnerung an dieses und ähnliche Videos anschließend verzerrt. Die Ursache für diesen Effekt liegt im Hippocampus – dem Gedächtniszentrum unseres Gehirns. Lange Zeit dachte man, unser Gedächtnis sei eine Art Fotoalbum des Erlebten: Einmal gespeichert, galten die Gedächtnisinhalte als stabil und unveränderlich. Heute wissen wir jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Stattdessen kann jeder Rückruf ins Bewusstsein den Gedächtnisinhalt verändern. Selbst die ungeschickte Befragung eines Zeugen eines Verbrechens kann seine Erinnerung an das Ereignis verfälschen, und es ist nicht ungewöhnlich, dass unser Gehirn bloße Erzählungen mit den selbst erlebten Eindrücken vermischt.
Studien haben bereits gezeigt, dass solche falschen Erinnerungen besonders häufig bei Schlafentzug auftreten, und auch elektrische Reize können den Eindruck von etwas vermeintlich Bekanntem oder Erlebtem erzeugen. Alyssa Sinclair von der Duke University in Durham und ihre Kollegen haben nun einen weiteren Auslöser identifiziert. Für ihre Studie spielten sie den Versuchspersonen am ersten Tag des Experiments 70 verschiedene kurze Videoclips vor. Am folgenden Tag sahen sich die Teilnehmer die Videos erneut an, während ihre Gehirnaktivität mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) aufgezeichnet wurde. Allerdings wurde die Hälfte der Videos in einem entscheidenden Moment abrupt und ohne Vorwarnung unterbrochen.
Am dritten Tag folgte der eigentliche Test: Die Versuchspersonen sollten sich an möglichst viele der Videoinhalte erinnern und diese wiedergeben. „Einige der Probanden konnten sich gut und mit unglaublicher Genauigkeit an das Gesehene erinnern“, berichtet Sinclair. „Bei anderen hingegen waren wahnsinnig viele falsche Erinnerungen darunter. Es war manchmal wirklich schwer, ernsthaft bei der Sache zu bleiben.“ Unter diesen falschen Erinnerungen zeichnete sich jedoch ein Muster ab: Erinnerungen an Videos, die unerwartet unterbrochen worden waren, waren besonders häufig verzerrt und gestört.
Wie die Forscher erklären, hat dies mit dem Überraschungsmoment zu tun: Wenn ein Ereignis unseren Erwartungen widerspricht, verändert dies die Reaktion des Hippocampus, dem Bereich des Gehirns, der für das Speichern, Erinnern und Verändern zuständig ist. Wenn die Versuchspersonen am zweiten Tag die Wiederholung eines bereits vom Vortag bekannten Videos ohne Unterbrechung ansahen, führte dies zu einer Konsolidierung des bereits gespeicherten Gedächtnisses – es wurde verfestigt. Kam es jedoch zu einer überraschenden Unterbrechung, wechselte der Hippocampus vom Erhaltungsmodus in den Aktualisierungsmodus, wie auch die Gehirnaktivität zeigte.
„Überraschung wirkt sich auf das gesamte Gehirn aus und aktiviert mehrere neuromodulatorische Systeme“, erklärt Sinclair. „Das Unerwartete schafft Bedingungen, die die Aktualisierung von Erinnerungen begünstigen und den Hippocampus dazu bringen, bestehende Gedächtnisinhalte zu vergessen oder zu verändern.“ Dies führt zur Freisetzung von Botenstoffen im Gehirn, die die Speicherung der unerwarteten Ereignisse fördern, aber auch das bereits Gespeicherte verändern und verwirren können.
Auffällig ist dabei, dass verzerrte Erinnerungen oft eng verwandte Gedächtnisinhalte betreffen. Wenn die Überraschung beispielsweise bei einem Baseballvideo auftrat, war die Erinnerung an andere Sportvideos oft ebenfalls gestört oder durcheinander gebracht. „Es gab einige Beispiele, bei denen die Versuchsperson den Inhalt eines Videos mental in ein anderes verschoben hatte“, berichtet Sinclair.
Nach Ansicht der Wissenschaftler unterstreicht dies, wie flexibel und anpassungsfähig unser Gedächtnis ist. Das ist grundsätzlich positiv, denn dadurch sind wir in der Lage, immer wieder Neues zu lernen und falsch Gelerntes zu korrigieren. Andererseits kann dies aber auch dazu führen, dass unser eigenes Gedächtnis trügerisch ist.
Literatur
Sinclair, Alyssa H., Manalili, Grace M., Brunec, Iva K., Adcock, R. Alison & Barense, Morgan D. (2021). Prediction errors disrupt hippocampal representations and update episodic memories. Proceedings of the National Academy of Sciences, 118, doi:10.1073/pnas.2117625118.
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