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Soziale Isolation erfordert Kompensation

    Tomova et al. (2020) haben die Folgen untersucht, wenn Menschen gezwungen sind, sich voneinander zu isolieren. In einem Experiment mit funktioneller Magnetresonanztomographie wurden die neuronalen Reaktionen nach zehn Stunden Fastens oder völliger sozialer Isolation auf Nahrung und soziale Signale gemessen. Nach der Zeit der Entbehrung zeigte man ihnen Fotos von ihrem Lieblingsessen, von gemeinschaftlichen Aktivitäten und neutrale Bilder als Kontrollbedingung. Nach der Isolation fühlten sich die Menschen einsam und sehnten sich nach sozialer Interaktion, wobei die Mittelhirnareale nach dem Fasten und nach der Isolation eine erhöhte Aktivierung auf Essenssignale und auf soziale Signale zeigten. Diese Reaktionen korrelierten dabei mit dem selbstberichteten Verlangen. Neuronale Muster als Reaktion auf Essenssignale, wenn die Teilnehmer hungrig waren, verallgemeinerten sich nach der Isolation offenbar auch auf soziale Signale. Offenbar verursacht soziale Isolation soziales Verlangen ähnlich wie Hunger, sodass Sozialkontakte vermutlich ein menschliches Grundbedürfnis wie Nahrungsaufnahme darstellt. Die Probanden und Probandinnen fühlten sich übrigens einsam, obwohl sie wussten, dass die Isolation zeitlich begrenzt bleiben wird. Man kann auch vermuten, dass soziale Isolation durch Belohnungen anderer Art kompensiert werden dürften, also vermehrte Nahrungsaufnahme.

    Courtney & Meyer (2020) haben die Gehirnaktivität beim Nachdenken über andere Menschen untersucht und konnten zeigen, dass das menschliche Gehirn die Intensität der Bindung zu anderen Menschen widerspiegelt. Sie analysierten die neuronale Aktivität von 43 Männern und Frauen mithilfe der funktionalen Magnetresonanztomografie, während diese über die Merkmale von ihnen selbst, der von engen Freunden oder von prominenten Menschen nachdachten. Dabei unterschied sich das Muster der Gehirnaktivität je nach Bezugsperson, denn das Nachdenken über sich selbst aktivierte andere Schaltkreise, als wenn die Probanden und Probandinnen über enge Freunde oder über nur aus dem Medien bekannte Menschen nachsannen. Dabei waren sich diese Muster umso ähnlicher, je enger sie sich mit der jeweiligen Person verbunden fühlten, sodass für die neuronale Repräsentation die subjektive Beziehung zu diesen Personen entscheidend war, wobei in allen Fällen der mediale präfrontale Cortex aktiv war, also jenes Areal im Stirnhirn, das unter anderem für das Selbstbild zuständig ist. Als man die Hirnaktivität von einsamen Probanden und Probandinnen mit denen von sozial gut integrierten verglich, zeigten sich auffallende Unterschiede, denn zum einen besaßen die einsameren eine schwächere Selbstrepräsentation im präfrontalen Cortex, d. h., ihr Aktivierungsmuster war stärker von anderen Arealen entkoppelt als bei nichteinsamen Teilnehmern. Auch unterschieden sich die neuronalen Muster für das Selbst und für enge Freunde stärker, wobei bei den meisten beim Nachdenken an sich selbst oder an Freunde eine sehr ähnliche cortikale Konstellation aktiviert wurde. Bei Menschen, die unter Einsamkeit litten, war die Repräsentation des Selbst im Gehirn stärker von der Repräsentation anderer Menschen entkoppelt. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Gefühl der chronischen sozialen Isolation durch eine isolierte Selbstrepräsentation im Gehirn widergespiegelt wird, doch es bleibt unklar, ob diese neuronalen Unterschiede Ursache oder Wirkung sind. Das soziale Gehirn scheint demnach zwischenmenschlichen Bindungen zu kartografieren, wobei Veränderungen in dieser Karte erklären, ob sich Menschen in einem sozialen Netzwerk befinden oder nicht. (Stangl, 2020).



    Literatur

    Courtney, Andrea L. & Meyer, Meghan L. (2020). Self-other representation in the social brain reflects social connection. The Journal of Neuroscience, doi:10.1523/JNEUROSCI.2826-19.2020.
    Tomova, Livia, Wang, Kimberly, Thompson, Todd, Matthews, Gillian, Takahashi, Atsushi, Tye, Kay & Saxe, Rebecca (2020). The need to connect: Acute social isolation causes neural craving responses similar to hunger. Nature Neuroscience, doi:10.1101/2020.03.25.006643.
    Stangl, W. (2020). Risikofaktor Einsamkeit | arbeitsblätter news. Werner Stangls Arbeitsblätter-News.
    WWW: https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/risikofaktor-einsamkeit/ (2020-11-24)


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