Zum Inhalt springen

Autobiografisches Gedächtnis und Identität

    Im autobiografischen oder episodischen Gedächtnis sind Erlebnisse und Erfahrungen abgelegt, d. h., es entspricht etwa einem Film des Lebens und trägt zur Identitätsbildung bei. Das autobiografische Gedächtnis hilft Menschen, sich in der Zukunft und der ­Gegenwart zu orientieren, es prägt im weitesten Sinne die Persönlichkeit eines Menschen, formt seine Identität und spiegelt die persönliche, subjektiv erlebte Lebensgeschichte wider. Erinnerungen an das eigene Leben sind bekanntlich immer subjektiv, denn jeder Mensch setzt im Laufe seines Lebens andere Akzente und hat seine eigene, unverwechselbare Wahrnehmung. Das schafft unter Umständen auch unter Geschwistern oft Missverständnisse, denn jedes Kind hat seine eigene Rolle in der Familie, und die Erinnerungen an das Familienleben sind, abhängig von dieser Rolle, in die eigene individuelle Geschichte eingebettet. Manchmal hat ein Kind eine Erfahrung innerhalb der Familie als prägend erlebt, während der Bruder oder die Schwester diese völlig aus ihrem Gedächtnis gestrichen haben. Das Gedächtnis arbeitet daher nicht nur subjektiv, sondern vor allem auch sehr selektiv, wobei es sich am liebsten schöne Erlebnisse behält, während es Unangenehmes verdrängt. Es handelt sich dabei um einen Selbstschutzmechanismus, denn mit positiven Erinnerungen lässt es sich bekanntlich besser leben.

    Fast zwangsläufig entsteht mit der Zeit ein Zerrbild der Wirklichkeit, was auch daran liegt, dass Menschen Erinnerungen beim Erzählen oder einfachen Erinnern jedes Mal etwas ausschmücken und sie zu einer gut erzählbaren Geschichte machen. Am Ende sind Menschen dann überzeugt, dass es sich genau so zugetragen hat. Emotionen spielen dabei eine wesentliche Rolle, denn alle Erinnerungen, die mit starken Gefühlen verbunden sind, prägen sich besonders gut ein. Sind aber zu viele und vor allem negative Emotionen im Spiel, kann die Erinnerung fehlerhaft werden, denn so verstellen etwa trauma­tische Erlebnisse die Biochemie im Gehirn. So führt ein erhöhter Level von Stresshormonen auf Dauer zu einer Überempfindlichkeit, wobei im Erwachsenenalter das Gehirn bereits bei kleineren Stressereignissen von Hormonen geflutet wird, d. h., es reicht ein ähnliches Erlebnis wie damals, um Betroffene in diese Situation mit allen Emotionen zurückzuversetzen. Manchmal bleibt ein Teil der Persönlichkeit in jenem Alter stehen, in dem eine Traumatisierung stattgefunden hat. Dabei hinterlasse auch manipulierte Erinnerungen Spuren, die man nur sehr mühsam löschen kann.

    Bei manchen wichtigen eigenen Erinnerungen sind die Menschen so überzeugt, dass sich die Ereignissse genau so und nicht anders zugetragen haben, dass sie jede andere Darstellung als Versuch erleben, ihre Identität zu untergraben. Das autobiographische Gedächtnis ist daher vermutlich mit dem menschlichen Selbstbild eng verbunden, wobei es vorwiegend jene Areale der Hirnrinde beansprucht, die zum Ruhezustandsnetzwerk gezählt werden. Indem Menschen Begebenheiten aus ihren Erinnerung hervorholen, frischen sie diese auf und erzählen sich gewissermaßen selber neu. Je häufiger Menschen eine Begebenheit sprachlich wiedergeben, desto semantischer wird die Erinnerung, denn beim Wiederaufrufen von ursprünglich meist eher sinnlichen Erfahrungen verschiebt sich der Inhalt zum wohl organisierten sprachlichen Wissen. Das zeigt sich daran, dass sich mit dem Alter die Hirnrindenaktivität während des Erinnerns von den hinteren sensorischen Regionen zunehmend in die vorderen ordnenden verschiebt.

    Die Musik der Jugend wird im autobiographischen Gedächtnis gespeichert

    Viele Melodien sind Teil des autobiographischen Gedächtnisses, wobei diese auch Jahrzehnte später noch aktiviert werden können. Selbst bei Menschen mit Alzheimer-Krankheit sind Melodien oftmals das letzte, woran sich diese noch erinnern. Andere Dinge, wie die binomischen Formeln oder die Texte neuer Pop-Songs, hat man hingegen schon nach ein paar Tagen wieder vergessen. Vor allem an Lieder, die man während der Jugend hörte, kann man sich besonders gut erinnern, denn in der Jugend, vor allem während der Pubertät, reagieren Menschen besonders emotional auf Musik. Viele Dinge passieren das erste Mal und Musik spielt auch als sozialer Faktor eine große Rolle, denn man hört sie gemeinsam mit Freunden, man geht auf Konzerte und in Clubs, sodass Melodien mit prägenden Ereignissen verknüpft werden, bestimmte davon werden darüber hinaus emotional aufgeladen. Dadurch landen manche Liedtexte und Melodien im autobiographischen Gedächtnis, werden wie andere prägende Ereignisse sicher verwahrt und als Teil der Identität wahrgenommen. Rhythmus, Melodie und Text werden von unterschiedlichen Arealen des Gehirns verarbeitet, d. h., viele Teile des Gehirns sind beim Musikhören involviert, was das Musikgedächtnis besonders robust macht, denn selbst wenn die Gehirnleistung in bestimmten Gehirnarealen nachlässt, sind noch genügend Informationen an anderer Stelle gespeichert. Hinzu kommt, dass manche dieser Melodien aus der Jugendzeit überraschend einfache Melodien aufweisen, was die Lieder noch einprägsamer und das Erinnern leichter macht.


    Im SPIEGEL Coaching vom Jänner 2021 fand sich eine kleine Übung, mit der man das au­to­bio­gra­fi­sche Ge­dächt­nis überprüfen kann, denn es kann durchaus sinnvoll sein, sich mit den eigenen Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend zu beschäftigen, um diese aus einer anderen Perspektive zu betrachten, sie anders zu gewichten oder auch ein paar verschüttete Erinnerungen auszugraben.

    „Suchen Sie aus einer alten Fotokiste oder einem Album drei Bilder heraus, auf denen Sie in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens zu sehen sind, allein oder auch mit anderen. Schauen Sie sich die Fotos genau an und überlegen Sie, was eine typische Geschichte ist, die zu diesen Fotos passt. Was sind die überlieferten Anekdoten, wo greifen die Zuschreibungen, die Sie immer wieder gehört haben? Schauen Sie anschließend, ob es noch andere Informationen gibt, die Sie dem Foto entnehmen können. Wie könnte es noch gewesen sein an dem Tag, an dem das Foto aufgenommen wurde? Beobachten Sie sich: Welche positiven Gefühle haben Sie, wenn Sie die Fotos betrachten? Sind Sie überrascht, wie freundlich oder witzig oder entspannt Sie wirken? Wie stimmungsvoll das Bild ist? Schauen Sie auch, welches der drei Bilder die positivsten Erinnerungen und Gefühle bei Ihnen hervorruft. Nehmen Sie sich nun noch mal alle Bilder vor und überlegen Sie, ob sich Ihre Erinnerungen ein bisschen verändert haben: Nehmen Sie die Fotos nun positiver wahr? Wenn eins der Fotos für Sie eine neue Perspektive auf damalige Ereignisse eröffnet und neue positive Aspekte ans Licht gebracht hat – dann hängen Sie es zuhause an einer Stelle auf, die Ihnen oft ins Auge fällt. Falls alle drei Fotos eher negativ besetzt sind: Werfen Sie doch nochmal einen Blick in Ihr Album: Wo entdecken Sie Neues, das Sie bisher nicht in Erinnerung hatten?“




    Literatur

    McDermott, K. B., Szpunar, K. K. & Christ, S. E. (2009). Laboratory-based and autobiographical retrieval tasks differ substantially in their neural substrates. Neuropsychologia, 47, 2290-2298.
    https://www.regenbogen.de/nachrichten/magazin/20210927/musik-und-erinnern-so-speichert-unser-gehirn-melodien (21-09-27)


    Impressum ::: Datenschutzerklärung ::: Nachricht ::: © Werner Stangl ::: Pädagogische Neuigkeiten für Pädagogen :::

    Ein Gedanke zu „Autobiografisches Gedächtnis und Identität“

    1. Alzheimer kurz und bündig

      Es handelt sich bei Alzheimer um eine fortschreitende neurodegenerative Erkrankung, deren Progredienz von Fall zu Fall variieren kann. Zu Beginn der Erkrankung treten Merkfähigkeits- und Kurzzeitgedächtnisstörungen auf, begleitet von noch leicht ausgeprägten Verhaltensänderungen wie verminderter Aktivität und sozialer Rückzug. Im weiteren Verlauf kommen weitere kognitive Defizite hinzu, wie Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, Sprachstörungen, apraktische Störungen und Defizite in der Visuokonstruktion. Zusätzlich können auch vegetative Symptome wie Harn- und Stuhlinkontinenz sowie neurologische Symptome auftreten.
      Quelle: Lieb, K. & Tüscher, O. (2019). Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. München: Elsevier.

    Die Kommentarfunktion ist deaktiviert.