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Neue Perspektiven auf Phantomschmerz und Therapie

    Lange Zeit herrschte in der Neurowissenschaft die Auffassung, dass sich die kortikale Repräsentation im Gehirn nach einer Amputation grundlegend verändert. Demnach würden benachbarte Körperareale, wie die Lippen, die zuvor für die amputierte Hand reservierte Region des somatosensorischen Kortex übernehmen. Diese sogenannte kortikale Reorganisation galt als maßgebliche Erklärung für das Auftreten von Phantomschmerzen, die bei bis zu 90 % der Amputierten auftreten. Doch eine aktuelle Längsschnittstudie von Schone et al. (2025), veröffentlicht in Nature Neuroscience, stellt diese Annahme infrage.

    Man untersuchte dabei drei Patientinnen und Patienten, die einen Arm verloren hatten, mithilfe funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) sowohl vor als auch bis zu fünf Jahre nach der Operation. Zusätzlich wurden Kontrollgruppen herangezogen. Während der Messungen führten die Probanden Bewegungen mit dem noch intakten Arm, dem Phantomarm sowie den Lippen aus. Unerwartet zeigte sich, dass die Versuche, den Phantomarm zu bewegen, mit realen Aktivierungen im Gehirn verbunden waren, die teilweise sogar Muskelkontraktionen im Stumpf auslösten. Die kortikale Karte von Hand, Fingern und Lippen blieb über Jahre hinweg stabil, und selbst mithilfe von vor der Amputation trainierten Klassifikationsmodellen konnten Phantomfingerbewegungen zuverlässig unterschieden werden. Diese Ergebnisse wurden zudem durch Querschnittsdaten aus weiteren Studien bestätigt, die Amputierte mit sehr lange zurückliegenden Eingriffen einschlossen.

    Damit wird die bisherige Theorie, wonach Phantomschmerzen aus einer fehlerhaften Reorganisation der Hirnareale resultieren, deutlich relativiert. Stattdessen weisen die Befunde darauf hin, dass die kortikale Stabilität erhalten bleibt und zentrale Top-down-Mechanismen oder eine maladaptive Erregbarkeit eine größere Rolle bei der Entstehung von Phantomschmerzen spielen könnten. Dies eröffnet neue therapeutische Ansätze: Klassische Methoden wie die Spiegeltherapie, die auf einer Rückbildung der angenommenen Reorganisation beruhen, erscheinen weniger zielführend. Vielmehr könnten zukünftig neuromuskuläre, nervale oder spinale Interventionen in den Vordergrund rücken. Darüber hinaus ergeben sich spannende Perspektiven für die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI), da die beständigen kortikalen Muster eine stabile Grundlage zur Steuerung von Prothesen durch Phantomarm-Signale bieten.

    Literatur

    Schone, H. R., Maimon-Mor, R. O., Kollamkulam, M., Szymanska, M. A., Gerrand, C., Woollard, A., Kang, N. V., Baker, C. I., & Makin, T. R. (2025). Stable cortical body maps before and after arm amputation. Nature Neuroscience. Advance online publication. https://doi.org/10.1038/s41593-025-02037-7

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