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Haben kreative Menschen ein besseres Gedächtnis als andere?

    Die Frage, ob kreative Menschen ein besseres Gedächtnis haben als andere, ist Gegenstand zahlreicher psychologischer und neurowissenschaftlicher Untersuchungen. Kreativität und Gedächtnis sind komplexe kognitive Fähigkeiten, die zwar miteinander verknüpft sind, aber nicht zwangsläufig im gleichen Maße ausgeprägt sein müssen. Es gibt Hinweise darauf, dass kreative Menschen in bestimmten Gedächtnisleistungen bessere Ergebnisse zeigen, insbesondere wenn es um assoziatives oder episodisches Gedächtnis geht. Dies liegt daran, dass kreative Prozesse häufig die Fähigkeit erfordern, ungewöhnliche oder weit entfernte Assoziationen herzustellen, was wiederum von einem flexiblen Zugriff auf gespeicherte Informationen abhängt. Kreativität wird dabei als die Fähigkeit verstanden, originelle und nützliche Ideen zu generieren (Guilford, 1956), wa sowohl divergentes Denken (die Fähigkeit, viele verschiedene Ideen zu produzieren) als auch konvergentes Denken (die Fähigkeit, die besten Ideen auszuwählen und zu verfeinern) beinhaltet. Für diese Prozesse sind Gedächtnisfunktionen unerlässlich, denn so ist das Arbeitsgedächtnis, das für die temporäre Speicherung und Manipulation von Informationen zuständig ist, eng mit der Fähigkeit verbunden, divergente Gedanken zu erzeugen (Ansburg & Hill, 2003; Benedek et al., 2014). Eine Metaanalyse von Wang et al. (2022) zeigte eine kleine, aber signifikante positive Korrelation zwischen der Arbeitsgedächtniskapazität und menschlicher Kreativität.

    So zeigte etwa eine Studie von Benedek et al. (2012), dass Menschen mit hoher Kreativität bessere Leistungen in Aufgaben zum assoziativen Gedächtnis zeigten, was darauf hindeutet, dass kreative Menschen über eine größere Vielfalt an mentalen Verknüpfungen verfügen. Auch die Fähigkeit zur sogenannten „semantic memory retrieval“ – also dem Abrufen von Wissen aus dem Langzeitgedächtnis – scheint bei kreativen Individuen ausgeprägter zu sein (Beaty et al., 2014). Diese Studien legen nahe, dass es nicht das Gedächtnis im Allgemeinen ist, das bei kreativen Menschen besser funktioniert, sondern spezifische Teilaspekte, die für kreative Denkprozesse besonders relevant sind.

    Das semantische Gedächtnis, das das Wissen über Fakten, Konzepte und die Welt im Allgemeinen speichert, ist ebenfalls für Kreativität von Bedeutung. Die Stärke semantischer Assoziationen wurde mit kreativer Kognition in Verbindung gebracht (Wammes et al., 2019). Je breiter und flexibler das semantische Netzwerk einer Person ist, desto mehr Verbindungen kann sie herstellen und desto leichter fällt es ihr, innovative Ideen zu entwickeln.

    Auch das episodische Gedächtnis, also die Erinnerung an spezifische Ereignisse und persönliche Erfahrungen, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Studien legen nahe, dass eine gut funktionierende episodische Gedächtnissystem die Fähigkeit zum divergenten Denken unterstützt, indem es den Zugriff auf eine breite Palette von vergangenen Erfahrungen ermöglicht, die neu kombiniert werden können (Addis et al., 2014; Madore et al., 2014). Die Fähigkeit, Details aus vergangenen Ereignissen abzurufen, kann die Generierung neuer Ideen fördern. Es gibt jedoch auch Forschung, die darauf hindeutet, dass ein flexibles Gedächtnissystem, das für Kreativität vorteilhaft ist, gleichzeitig anfälliger für Gedächtnisverzerrungen sein kann (Ditta & Storm, 2018).

    Neuroimaging-Studien unterstützen diese Befunde, indem sie zeigen, dass kreative Denkaufgaben mit einer stärkeren Aktivierung in Hirnnetzwerken einhergehen, die mit Gedächtnisabruf und -integration assoziiert sind, wie etwa dem „default mode network“ (Beaty et al., 2016). Dieses Netzwerk spielt eine zentrale Rolle bei introspektiven Prozessen und dem Abrufen autobiografischer Erinnerungen, was wiederum für kreative Ideenfindung von Bedeutung ist.

    Jedoch bedeutet das nicht zwangsläufig, dass kreative Menschen ein generell besseres Gedächtnis für Fakten oder Zahlen haben. Es ist also wichtig zu beachten, dass die Beziehung zwischen Gedächtnis und Kreativität nicht unbedingt bedeutet, dass kreative Menschen ein „besseres“ Gedächtnis im Sinne einer fehlerfreien oder quantitativ überlegenen Gedächtnisleistung haben. Vielmehr geht es oft um die Art und Weise, wie Gedächtnisinhalte verarbeitet, abgerufen und neu kombiniert werden. Kreative Personen könnten eine höhere Fähigkeit haben, Informationen flexibel zu assoziieren, auch wenn sie scheinbar irrelevant sind, und diese für neue Ideen zu nutzen. Die Neurowissenschaft zeigt, dass Kreativität oft die Koordination zwischen verschiedenen Gehirnnetzwerken erfordert, darunter das Default Mode Network (aktiv beim Tagträumen und Gedanken schweifen lassen) und das Cognitive Control Network (für exekutive Funktionen wie Planung) (Beaty et al., 2021). Diese Integration ermöglicht es, Erinnerungen und Wissen auf unkonventionelle Weisen zu verknüpfen.Vielmehr ist die Stärke kreativer Menschen in der Art und Weise zu finden, wie sie gespeicherte Informationen flexibel und neuartig kombinieren können, was bedeutet, dass Kreativität  also eher mit einer besonderen Qualität des Gedächtnisgebrauchs als mit einer allgemeinen Gedächtnisüberlegenheit einherzugehen scheint.



    Literatur

    Addis, D. R., Pan, L., Musicaro, R.,& Schacter, D. L. (2014). The episodic specificity induction: A new method for studying the contribution of episodic memory to creativity. Memory & Cognition, 42, 434-448.
    Ansburg, P. I. & Hill, K. (2003). Creative and analytic thinkers differ in their use of attentional resources. Personality and Individual Differences, 34, 1141-1153.
    Beaty, R. E., Benedek, M., Kaufman, S. B. & Silvia, P. J. (2015). Default and Executive Network Coupling Supports Creative Idea Production. Scientific Reports, 5, 10964.
    Beaty, R. E., Silvia, P. J., Benedek, M. & Schacter, D. L. (2016). Creative cognition and brain network dynamics. Trends in Cognitive Sciences, 20, 87–95.
    Beaty, R. E., Christensen, A. P.,& Schacter, D. L. (2021). The creative brain: Insights from network neuroscience. Cerebral Cortex, 31, 3657-3670.
    Benedek, M., Könen, T. & Neubauer, A. C. (2012). Associative abilities underlying creativity. Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts, 6, 273–281.
    Benedek, M., Franz, F., Heene, M. & Neubauer, A. C. (2014). Differential effects of inhibition and working memory on divergent thinking. Journal of Intelligence, 2, 1-13.
    Ditta, A. S. & Storm, B. C. (2018). Linking creativity and false memory: Common consequences of a flexible memory system. Journal of Experimental Psychology: General, 147, 1475-1490.
    Madore, K. P., Gaesser, B. & Schacter, D. L. (2014). Creativity and memory: Effects of an episodic specificity induction on divergent thinking. Psychological Science, 25, 754-762.
    Wammes, J. D., Meade, M. E. & Fernandes, M. A. (2019). Effects of music listening on creative cognition and semantic memory retrieval. Psychology of Music, 37, 173-188.


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