Ein traumatisches Ereignis erschüttert das Selbst- und Weltverständnis eines Menschen. Dies führt zum Verlust von Grundvertrauen und Orientierung sowie der Unfähigkeit, auf die kognitiven Kompetenzen und emotionalen Bewältigungsressourcen zurückzugreifen. Im Verlauf der Evolution haben Menschen bemerkenswerte Fähigkeiten entwickelt, um mit negativen Stresssituationen, Bedrohungen, Gewalt und Verletzungen umzugehen. Ihre Hirnphysiologie veranlasst sie in einer solchen Situation zu einer von drei Reaktionen: Flucht, Kampf oder Erstarrung (Flight-Fight-Freeze). Diese Reaktionen wirken sich wiederum auf die psychischen Strategien zur dauerhaften Bewältigung solcher Erfahrungen aus. Obgleich sich die menschliche Neurophysiologie und psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten im Verlauf der Evolution beständig weiterentwickelt haben und zu Resilienz sowie Schutz vor erneuten Gefahren beitragen, werden Menschen nach wie vor Opfer von Unfällen und sexualisierter Gewalt. Natur- und technische Katastrophen, der Verlust geliebter Menschen, schockierende Diagnosen, Verluste körperlicher Unversehrtheit sowie Erfahrungen mit Überfällen, Amokläufen und terroristischen Anschlägen gehören ebenfalls zu den traumatischen Ereignissen, die Menschen in unterschiedlichen Kontexten erleben. Selbst das Erleben von Krieg und Flucht stellt ein individuelles und kollektives Trauma dar, das als bittere Realität zu werten ist.
Das Leben der Betroffenen ist seit dem traumatisierenden Ereignis massiv beeinträchtigt. Dies betrifft nicht nur das individuelle Leben, sondern wirkt sich krisenhaft in sämtliche familiäre, soziale oder berufliche Kontexte aus. Die langfristige Beeinträchtigung erstreckt sich auf das Selbstbild, das Vertrauen in andere Menschen sowie die Verlässlichkeit und das Sicherheitsgefühl in das Leben, die Zukunft und die Welt. Die erlebende Person scheint in einer Schleife aus Traumawiedererleben gefangen zu sein, wodurch eine Integration des Hier und Jetzt des Lebens im Vergleich zur traumatischen Situation erschwert wird. Andererseits verfügt der Mensch über die Fähigkeit zur Resilienz und Erholung sowie in einigen Fällen über die Möglichkeit des posttraumatischen Wachstums, einer persönlichen Reifung nach einem Trauma.
Die Psychotraumatologin Sonja Holzner-Michna beschreibt eine derartige Reifung der Persönlichkeit im aktuellen Reader „Hoffnung und Verzweiflung”. Demnach vollzieht das Ethos eine Revision des individuellen oder kulturellen Wertesystems und erlebt eine Steigerung des ethischen oder spirituellen Bewusstseins. Die Entwicklung von Fähigkeiten wie Selbstakzeptanz und Vergebung, Generativität oder sozialem Engagement sowie die Möglichkeit der Ausbildung von Weisheitskompetenzen werden durch diesen Prozess begünstigt. Im Logos erfolgt eine Revision bisheriger Basisannahmen sowie von Überzeugungen, die Autonomie hemmen. Eine fundamentale und realistische OK-Haltung trotz erfahrenen Leides sowie eine Toleranz gegenüber Unsicherheiten nehmen zu. Die Bewältigung des Geschehenen kann Sinn und Bedeutung beigemessen werden, wodurch neue Möglichkeiten im Leben ergriffen werden können. Im Pathos erfolgt eine Bewältigung, bei der kein Rückfall in alte Skriptüberzeugungen oder eine hilflose Opferhaltung zu beobachten ist. Es kommt zu einem Zuwachs an Achtsamkeit, Empathie oder Serenität sowie zu echten, intimen Beziehungen.
Literatur
Holzner-Michna, Sonja (2024). Posttraumatisches Wachstum – oder: die Geschichte des vergoldeten Gefäßes. In Christoph Seidenfus, Ute Hagehülsmann & Rolf Balling (Hrsg.), Stabilität auf schwankendem Boden – Reifer Umgang mit den Unsicherheiten unserer Zeit. Springer.
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