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Die Beziehung zwischen Autismus und Kreativität

    Die Beziehung zwischen Autismus und Kreativität ist ein vielschichtiges und zunehmend erforschtes Thema, das sich nicht auf einfache Kausalitäten reduzieren lässt. Lange Zeit wurde Autismus primär mit Defiziten in sozialen, kommunikativen und kognitiven Bereichen assoziiert, während kreative Fähigkeiten als eher eingeschränkt galten. Neuere Forschung zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild, das zeigt, dass viele autistische Menschen über besondere kreative Potenziale verfügen, insbesondere im Bereich der divergenten Denkweise, Detailwahrnehmung und nonverbalen Ausdrucksformen wie Musik, Kunst oder Mathematik.

    Kreativität ist schwer eindeutig zu definieren, wird aber meist als die Fähigkeit verstanden, neue und nützliche Ideen hervorzubringen. Divergentes Denken, also das Erzeugen vielfältiger, ungewöhnlicher Ideen zu einem offenen Problem, gilt als ein zentraler Bestandteil kreativen Denkens. Studien zeigen, dass Menschen im Autismus-Spektrum zwar häufig bei sozialen Interaktionen Schwierigkeiten haben, jedoch in bestimmten kreativen Aufgaben, insbesondere jenen, die auf originellem, nicht-sozialem Problemlösen beruhen, vergleichbare oder sogar überdurchschnittliche Leistungen zeigen können. Beispielsweise fanden Best, Arora, Porter und Doherty (2015), dass autistische Erwachsene bei einer Aufgabe zum „unusual uses test“, bei der möglichst viele kreative Verwendungen für einen Alltagsgegenstand gefunden werden sollen, eine geringere Anzahl an Antworten gaben, diese aber ungewöhnlicher und origineller waren als die der neurotypischen Vergleichsgruppe. Dies deutet darauf hin, dass bei Autismus möglicherweise eine andere Form von Kreativität vorliegt – weniger quantitativ, aber mit hoher Originalität.

    Ein möglicher Erklärungsansatz hierfür liegt in der „Weak Central Coherence“-Theorie, die besagt, dass autistische Menschen eher auf Details als auf das große Ganze fokussiert sind. Diese Detailorientierung kann, insbesondere in bildnerischen oder analytischen Bereichen, kreative Ausdrucksformen begünstigen, die auf Präzision, Mustererkennung und struktureller Innovation beruhen (Happé & Frith, 2006). Auch die erhöhte Systematisierungsneigung, wie sie Baron-Cohen (2002) beschreibt, kann in kreativen Domänen wie der Informatik, Musikkomposition oder mechanischem Design eine produktive Rolle spielen. Kreativität im Autismus ist damit oft regelgebunden, strukturiert und auf innere Logik ausgerichtet – was sie von spontaner, expressiver Kreativität unterscheidet, jedoch nicht weniger wertvoll macht.

    Neuere Theorien und Forschungen legen nahe, dass eine schwache zentrale Kohärenz, ein spezifischer Wahrnehmungs- und Kognitionsstil, der zentralen Störung bei Autismus zugrunde liegt. In einer Studie wurde versucht, die Hypothese der schwachen zentralen Kohärenz zu überprüfen. Die Ergebnisse zeigten eine mehrdeutige Unterstützung für die Hypothese der schwachen zentralen Kohärenz, aber es wurden mäßige Korrelationen zwischen verbaler schwacher zentraler Kohärenz und der Theory of Mind festgestellt. Es wurden jedoch keine signifikanten Ergebnisse zwischen schwacher zentraler Kohärenz und sozial-emotionalen Funktionen festgestellt.

    Darüber hinaus berichten viele autistische Künstlerinnen und Künstler von einem intensiven inneren Erleben, das sich in sehr originellen und emotional aufgeladenen Werken äußert. Diese subjektiven Erfahrungswelten, oft schwer sprachlich zu vermitteln, finden in visuellen oder klanglichen Ausdrucksformen eine kanalisierte Form, die nicht selten als hochgradig kreativ wahrgenommen wird. Scott, Underwood und Evans (2021) argumentieren, dass autistische Kreativität häufig in Nischen oder durch alternative Kommunikationsformen sichtbar wird, was in traditionellen Kreativitätsmessungen übersehen werden kann. Die standardisierten Tests, die typischerweise fluide, sprachlich orientierte Kreativität messen, erfassen daher möglicherweise nur unzureichend das kreative Potenzial autistischer Personen.

    Nicht zuletzt spielen auch neurobiologische Faktoren eine Rolle. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass kreative Prozesse mit atypischen Aktivierungsmustern im Gehirn einhergehen, etwa einer erhöhten Konnektivität zwischen Regionen, die normalerweise nicht stark miteinander interagieren. Interessanterweise finden sich ähnliche Muster auch im autistischen Gehirn, insbesondere im Hinblick auf die Konnektivität im Default Mode Network und im präfrontalen Cortex (Takeuchi et al., 2014). Dies legt nahe, dass es strukturelle Überlappungen zwischen neurologischer Diversität und kreativer Informationsverarbeitung geben könnte.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Autismus und Kreativität nicht im Widerspruch stehen, sondern sich in vielen Fällen sogar gegenseitig befördern können. Während autistische Menschen in bestimmten sozialen oder expressiven Bereichen kreative Einschränkungen erleben mögen, zeigen sie in anderen Domänen – etwa durch Originalität, Detailfokus, Systematik oder nonverbale Ausdruckskraft – ein kreatives Potenzial, das traditionelle Definitionen von Kreativität herausfordert und erweitert. Es ist daher notwendig, Kreativität nicht nur als spontane, soziale oder sprachlich vermittelte Fähigkeit zu begreifen, sondern als ein vielfältiges Spektrum von Ausdrucksformen, das neurodivergente Denkweisen einschließt.

    Literatur

    Baron-Cohen, S. (2002). The extreme male brain theory of autism. Trends in Cognitive Sciences, 6(6), 248–254.
    Best, C., Arora, S., Porter, F., & Doherty, M. (2015). The relationship between subthreshold autistic traits, ambiguous figure perception and divergent thinking. Journal of Autism and Developmental Disorders, 45(12), 4064–4073.
    Happé, F., & Frith, U. (2006). The weak coherence account: Detail-focused cognitive style in autism spectrum disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders, 36(1), 5–25.
    Scott, M., Underwood, J. D. M., & Evans, K. (2021). Creativity and autism: What can we learn from autistic artists? Frontiers in Psychology, 12, 645317.
    Takeuchi, H., Taki, Y., Hashizume, H., Sassa, Y., Nagase, T., Nouchi, R., & Kawashima, R. (2014). The association between resting functional connectivity and creativity. Cerebral Cortex, 24(7), 1723–1730.

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