Das menschliche Gehirn arbeitet auf Hochtouren, wenn man sich etwas vorstellt, und zwar genau wie beim echten Sehen, d. h., bei der visuellen Vorstellungskraft wird in Abwesenheit von Sinneseindrücken dabei eine Wahrnehmungsrepräsentation aktiviert, was manchmal als Sehen mit dem geistigen Auge beschrieben wird. Eine Reihe physiologischer Studien deutet darauf hin, dass das Gehirn mehr oder weniger dieselben neuronalen Ressourcen für die visuelle Wahrnehmung sensorischer Informationen und die visuelle Vorstellungskraft nutzt. Die Intensität der visuellen Vorstellungskraft wurde bisher in der Regel anhand von Fragebögen bewertet, während objektivere Messungen fehlten. Ziel einer neuen Studie von Mozhdehfarahbakhsh et al. (2024) war es, ein neues experimentelles Paradigma zu testen, das eine objektive Quantifizierung der Vorstellungskraft ermöglichen könnte. Dazu nutzte man Priming- und Adaptationseffekte bei der Betrachtung von mehrdeutigen Figuren. Die enschliche Wahrnehmung eines mehrdeutigen Reizes ist instabil und wechselt spontan zwischen zwei möglichen Interpretationen. Beobachtet man zunächst eine eindeutige Reizvariante (den Konditionierungsreiz), so kann der anschließend präsentierte mehrdeutige Reiz in Abhängigkeit von der Konditionierungszeit entweder in gleicher Weise wie der Testreiz (Priming-Effekt) oder in umgekehrter Weise (Adaptationseffekt) wahrgenommen werden. Man testete diese Konditionierungseffekte (Priming und Adaptation) mit einem mehrdeutigen Necker-Würfel (eine zweidimensionale Darstellung eines Würfels, der in zwei verschiedenen 3D-Orientierungen wahrgenommen werden kann und bei dessen Betrachtung die Wahrnehmung spontan zwischen diesen Orientierungen hin und her springt) und einem mehrdeutigen Buchstaben/Zahlen-Reiz als Testreiz und eindeutigen Varianten davon als Konditionierungsreiz.
In einer zweiten Versuchsbedingung prüfte man, ob die vorherige Vorstellung einer eindeutigen Konditionierungsreizvariante – anstelle ihrer Beobachtung – ähnliche Konditionierungseffekte auf den nachfolgenden Testreiz haben kann. Man fand dabei keinen systematischen Konditionierungseffekt auf Gruppenebene, weder für die beiden Stimulustypen (Necker-Würfel-Stimuli und Buchstaben/Zahlen-Stimuli) noch für die beiden Bedingungen (real und imaginär). Allerdings wurden für beide Stimulustypen signifikante Zusammenhängen zwischen den Effekten der realen und der imaginären Bedingung beobachtet. Das Fehlen von Konditionierungseffekten auf Gruppenebene kann dadurch erklärt werden, dass nur eine Konditionierungszeit verwendet wurde, was zu den individuellen Priming- und Adaptationskonstanten einiger der Teilnehmer, aber nicht zu denen anderer passen könnte. Die starken Korrelationsergebnisse deuten darauf hin, dass Beobachter mit eindeutigen Konditionierungseffekten in etwa die gleiche Art (Priming oder Adaptation) und Intensität der imaginären Konditionierungseffekte aufweisen. Folglich können nicht nur vergangene Wahrnehmungserfahrungen, sondern auch vergangene Imaginationen die aktuellen Wahrnehmungen beeinflussen. Dies ist eine weitere Bestätigung dafür, dass die der Wahrnehmung und der Vorstellung zugrunde liegenden Mechanismen ähnlich sind. Diese Forschungsergebnisse zeigen also deutlich, dass wenn man sich etwas vorstellt, das Gehirn quasi die gleichen neuronalen Strukturen nutzt, die auch bei der Verarbeitung realer visueller Reize zum Einsatz kommen, wobei die visuelle Vorstellungskraft nachfolgende Wahrnehmungen beeinflusst. Die qualitativen Post-hoc-Beobachtungen von drei selbst definierten aphantasischen Beobachtern deuteten auchdarauf hin, dass dieses neue Paradigma ein vielversprechender objektiver Maßstab zur Identifizierung von Aphantasie sein könnte.
Literatur
Mozhdehfarahbakhsh, Azadeh, Hecker, Lukas, Joos, Ellen & Kornmeier, Jürgen ( 2024). Visual imagination can influence visual perception – towards an experimental paradigm to measure imagination. Scientific Reports. 14, doi:10.1038/s41598-024-74693-x.
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